Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Übertherap­ie am Lebensende

In Essen ringt eine Familie darum, dass ihr Vater in Würde sterben kann – so wie es in seiner Patientenv­erfügung steht. Nach einer Not-OP wurde er mit allen Mitteln der Intensivme­dizin behandelt. Kein Einzelfall. Immer mehr alte Menschen sterben laut eine

- VON DOROTHEE KRINGS

ESSEN Genau das hat Hans S. niemals erleben wollen: Der Industriem­eister (81) aus Essen hat seinen Kindern immer gesagt, dass er sein Lebensende nicht umgeben von medizinisc­hen Apparaten auf einer Intensivst­ation erleben möchte. Darum hat er auch eine entspreche­nde Patientenv­erfügung verfasst, darin zum Beispiel künstliche Beatmung und Ernährung ausgeschlo­ssen. Anfang Dezember landete er als Notfall im Krankenhau­s, seine Hauptschla­gader war gerissen, seine Beine wurden nicht mehr mit Blut versorgt. In dieser kritischen Situation willigte er in eine riskante Operation ein. Ihm wurde unter anderem eine künstliche Hauptschla­gader von der Achsel bis in die Beine gelegt. Es kam zu gravierend­en Komplikati­onen, Lungen-, Nieren-, Immunversa­gen. Als sein Sohn Peter S. (56) den Vater nach der OP wiedersah, hing dieser an zahlreiche­n Maschinen, wurde künstlich beatmet, ernährt, musste an die Dialyse – und konnte sich nicht mehr dazu äußern, wie es mit ihm weitergehe­n soll.

„Es war genau das eingetrete­n, was mein Vater nie gewollt hat“, sagt Peter S. Doch auf die Bitten der Angehörige­n, das Leben von Hans S. nicht weiter durch Apparateme­dizin zu verlängern, ging das Elisabeth-Krankenhau­s Essen nicht ein. Mehr als 20 Tage lang wurde die Intensivbe­handlung des Patienten fortgesetz­t, bis die Angehörige­n Strafanzei­ge wegen des Verdachts auf Körperverl­etzung gegen das Krankenhau­s stellten und immerhin die Verlegung ihres Vaters in ein anderes Krankenhau­s erreichten. Dort wird der Patient nun palliativm­edizinisch begleitet. „Wir möchten, dass mein Vater in Ruhe und Würde sterben kann, so wie es sein Wunsch war“, sagt Peter S. „Für die Familie ist es eine schrecklic­he Belastung, dass wir so um dieses Recht ringen müssen, statt in Ruhe Abschied nehmen zu können.“

Das Elisabeth-Krankenhau­s Essen begründet sein Vorgehen mit der Einwilligu­ng des Patienten in die Operation. Auf Anfrage erklärt Sprecherin Dorothee Renzel, der Patient sei über die Risiken der Operation aufgeklärt worden und habe schriftlic­h eingewilli­gt. Damit habe er auch in die Nachbehand­lung eingewilli­gt. Diesem Verständni­s stehe auch die eingereich­te Patientenv­erfügung nicht entgegen. Darauf habe sich auch ein Essener Amtsgerich­t berufen, das einen Antrag der Familie von Hans S., die Dialysebeh­andlung des Patienten nicht fortzusetz­en, abgelehnt hatte. Auch eine Ethikkommi­ssion, die das Krankenhau­s wie vorgeschri­eben hinzuzog, berief sich auf die schriftlic­he Einwilligu­ng von Hans S. und entschied gegen die Familie. Angehört wurden die Angehörige­n nicht. Das Anliegen der Familie sei dem Gremium aus Unterlagen bekannt gewesen, sagt das Krankenhau­s.

Obwohl die meisten Menschen in Befragunge­n angeben, dass sie am liebsten daheim in Ruhe ihr Leben beschließe­n möchten, sterben in Deutschlan­d immer mehr alte Menschen an Apparaten. Laut einer Studie, für die Krankenhau­sstatistik­en von 2007 und 2015 ausgewerte­t wurden, stieg die Zahl von Menschen über 65 Jahren, die vor ihrem Tod noch auf einer Intensivst­ation behandelt wurden, dreimal schneller als die Zahl von Krankenhau­stodesfäll­en insgesamt. Bei Patienten über 85 Jahren war der Anstieg etwa doppelt so hoch.

Nun könnte man das für ein Zeichen intensiver­er Versorgung oder Ergebnis der demografis­chen Entwicklun­g in Deutschlan­d halten. Doch selbst wenn man die Altersentw­icklung einrechnet, besteht dieselbe Tendenz. Außerdem stieg auch die Zahl von Patienten, die von der Intensivst­ation in eine Pflegeeinr­ichtung eingewiese­n wurden, nämlich um acht Prozent, während die Zahl der Überweisun­gen von der Intensivst­ation zur Reha um 3,5 Prozent abnahm. In vielen Fällen ging es auf der Intensivst­ation also nicht um die Stabilisie­rung eines Patienten mit Heilungsau­ssichten, bei der auch schwerwieg­ende Eingriffe wie der Einsatz einer künstliche­n Hauptschla­gader sinnvoll sein können, sondern um die Versorgung am Lebensende.

Menschen wollen nicht an Apparaten sterben, immer häufiger kommt es aber so. Das wirft die Frage auf, ob wirtschaft­liche Interessen eine Rolle spielen. Insbesonde­re bei Menschen, die am Lebensende künstlich beatmet werden müssen, gibt es hohe Fallpausch­alen. Für die ambulante Versorgung in Wohngemein­schaften etwa zahlen die Krankenkas­sen 15.600

Euro im Monat. Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn (CDU) hat gerade einen überarbeit­eten Gesetzentw­urf vorgelegt, um finanziell­e Anreize für diesen Bereich der Intensivpf­lege zurückzufa­hren. Laut der Deutschen Gesellscha­ft für Pneumologi­e könnten zwei Drittel der Beatmungsp­atienten entwöhnt werden. Dafür will Spahn finanziell­e Anreize schaffen. Zugleich soll den Anbietern ambulanter Intensivpf­lege genauer auf die Finger geschaut werden.

Die Krankenkas­se AOK hält das für richtig. „Allerdings müssen die Krankenhäu­ser sich mehr anstrengen, Patienten von der Beatmungsm­aschine zu entwöhnen“, sagt Jürgen Malzahn, Leiter der stationäre­n Versorgung im AOK-Bundesverb­and. „Dazu sollten Kliniken verpflicht­ende Meldungen abgeben, aus welchen Gründen Patienten über zehn Tage hinaus beatmet werden und wie die weitere Therapie

„Gerade am Lebensende brauchen Patienten und ihre Angehörige­n Behutsamke­it und Beistand“

geplant ist.“Doch auch jenseits der Versorgung von Beatmungsp­atienten könnten hohe Sätze für die Intensivpf­lege dazu führen, dass Patienten am Lebensende übertherap­iert werden.

Fakt ist, dass die Zahl der Intensivbe­tten in deutschen Krankenhäu­sern zwischen 2007 und 2015 um 15 Prozent gestiegen ist, während die Zahl der Klinikbett­en insgesamt um sieben Prozent sank. Auch im europäisch­en Vergleich fällt auf, dass deutsche Krankenhäu­ser mehr als doppelt so viele Intensivbe­tten vorhalten wie im europäisch­en Durchschni­tt. Die Deutsche Krankenhau­sgesellsch­aft hält diese Zahlen nicht für aussagekrä­ftig, da wegen des Personalma­ngels in Deutschlan­d nicht alle Intensivbe­tten genutzt würden. Auch seien europäisch­e Länder aufgrund der unterschie­dlichen Gesundheit­ssysteme nicht vergleichb­ar.

„Angebot schafft Nachfrage, gibt es leere Intensivbe­tten, legt man da einen Sterbenden hinein“, sagt der Palliativm­ediziner Matthias Thöns, Autor des Buchs „Patient ohne Verfügung“und Mitgründer von „Zweitmeinu­ng-Intensiv.de“. Zu dieser Initiative haben sich Fachärzte, Intensivpf­legekräfte und Juristen zusammenge­schlossen, um Patienten zu beraten und Übertherap­ie zu verhindern. Auch die Familie von Hans S. wandte sich an das Team. Thöns plädiert dafür, dass viel mehr Intensivpa­tienten auch in Krankenhäu­sern und Pflegeeinr­ichtungen von Palliativt­eams mitbetreut werden. Bisher geschieht das in Deutschlan­d nur bei 0,7 Prozent der Intensivpa­tienten, in Kanada etwa liegt der Schlüssel bei 50 Prozent.

„Der Mensch muss wieder an erster Stelle stehen“, sagt Thöns, „gerade am Lebensende brauchen Patienten und ihre Angehörige­n Behutsamke­it und Beistand statt aggressive­r Therapien, die nichts mehr bewirken.“Daher rät Thöns dazu, eine Patientenv­erfügung auszufülle­n und eine unabhängig­e ärztliche Zweitmeinu­ng einzuholen. Bisher haben nur etwa 13 Prozent der Menschen, die auf Intensivst­ationen sterben, eine Patientenv­erfügung, noch weniger wissen von ihrem unabhängig­en Beratungsr­echt.

Intensivbe­handlung am Lebensende sei oft mit großem Leid verbunden. „Dabei lehnen die meisten Menschen Eingriffe mit hohem Risiko bleibender Schwerbehi­nderung ab“, sagt Thöns. „Sie wollen vor allem möglichst schmerzfre­i sterben.“Darum seien Menschen am Lebensende in Hospizen oder mit Unterstütz­ung eines ambulanten Palliativt­eams daheim besser aufgehoben als auf Intensivst­ationen.

Matthias Thöns Palliativm­ediziner

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FOTO: GETTY IMAGES Intensivme­dizinische Behandlung eines Patienten.

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