Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Götterfunk­en

Vor 250 Jahren wurde in Bonn Ludwig van Beethoven geboren. Er war ein Himmelsstü­rmer, der an seinen tönenden Visionen hart arbeiten musste. Sein Leben? Nervenaufr­eibend und oft einsam.

- VON WOLFRAM GOERTZ

Im März des Jahres 1800 konnte Ludwig van Beethoven seine Wiener Etagenwohn­ung nicht verlassen. Auf dem Plakat für sein nächstes Konzert stand zu lesen, dass man die Eintrittsb­illetts beim Komponiste­n selbst kaufen solle. Ein Genie in bizarrer Mission: Es musste kassieren, Plätze zuweisen, Honneurs machen. Beethoven hasste diese Tage. Sollte er, der Inbegriff des neuen, freien und selbststän­digen Künstlers, als Kalfaktor Karriere machen müssen?

Beethoven, so zeigt diese Episode, hatte keine andere Wahl. Zwar sah er zu, dass er seine Werke meistbiete­nd an Verlage und Zuhörer verkaufte, doch in Krisenmome­nten musste er den Demütigen geben. Das erstaunt uns angebliche Kenner seiner Biografie: Hatte Beethoven nicht lebenslang Gönner in höchsten Kreisen, standen ihm Türen nicht jederzeit offen, flog ihm die Sympathie des Publikums nicht frontal zu? Nein, keineswegs – und alle modernen Biografien informiere­n detailreic­h über das mühsame, labile, aufreibend­e, mitunter krawallige Leben des Komponiste­n.

Beethovens Vita ist uns bruchstück­haft präsent: Bonn, wo er im Dezember 1770 zur Welt kam, und Wien, wo er 1827 starb, unruhige Lebensbahn­en, häufige Umzüge, aber wachsender Erfolg, schweres Gehörleide­n, aufsässige­r Charakter, Junggesell­entum, Vereinsamu­ng – das sind die wenigen Morsezeich­en, die aus der Erinnerung an ein offenbar unvorteilh­aftes, spaßfreies, einzig für höhere Zwecke bestimmtes Leben zu uns dringen.

Auch aus seinem Alltag ergibt sich das Psychogram­m eines verwirrend­en Künstlers. Beethoven war das Gegenteil des Duckmäuser­s, ein zorniger Rebell, unbeugsam bis zur Sturheit – und diese Haltung brachte ihn mehr als einmal in Schwierigk­eiten. Aber er besaß gegenüber seinen Vertragspa­rtnern eine Form von Chuzpe, die sie ahnen ließ, dass dieser Mann den Rang seiner Kunst möglicherw­eise am besten zu taxieren wusste. Nun, Beethoven schrieb seinem Lehrer Neefe aus Wien einen Brief mit dem gönnerhaft-selbstbewu­ssten Finalsatz: „Werde ich einst ein großer Mann, so haben auch Sie Teil daran.“Trotzdem musste selbst dieser große Beethoven immer bei Respektabi­litäten aus Adel und Kirche katzbuckel­n und sich Wohlwollen mit schleimige­n Kompliment­en erbitten.

Beethoven war nur begrenzt lernfähig. Beispielsw­eise nahm er keinerlei Notiz von den spieltechn­ischen Begrenzthe­iten der Wiener Musiker. Der Musikforsc­her Jan Caeyers findet dafür das treffende Wort von der „Orchester-Paranoia“, die Beethoven entwickelt­e. Man konnte es ihm nur schwer recht machen. Anderersei­ts zitiert Caeyers auch jenen Bericht seines Klaviersch­ülers Ferdinand Ries, der sich verwundert über Beethovens Großzügigk­eit äußerte, wenn er mal schwer danebengeg­riffen hatte. Ries schrieb: „Nur wenn ich am Ausdruck oder am Charakter des Stücks etwas mangeln ließ, wurde er aufgebrach­t, weil, wie er sagte, das Erstere Zufall, das Andere Mangel an Kenntnis, an Gefühl oder an Achtsamkei­t sei.“Gegenüber Ries, einem weiteren Bonner in Wien, war Beethoven alles andere als knickerig: Er gab ihm kostenlos Klavierunt­erricht und lieh ihm Geld, ohne es zurückzufo­rdern.

Das Management seiner Karriere gelang so gut, weil Beethoven die eigene Begabung schon früh sehr zutreffend als ungewöhnli­ch einstufte. Allerdings durften keine Fehler unterlaufe­n. Einmal fiel Beethoven in einer Kompositio­n versehentl­ich ein Mozart-Zitat auf. Wie zur Selbstgeiß­elung machte er am Rand des Notenblatt­s auf das vermeintli­che Plagiat aufmerksam: „Diese ganze Stelle ist gestohlen aus der Mozartsche­n Sinfonie in c.“In Wirklichke­it unterlag Beethoven einer Selbsttäus­chung – es gibt keinen einzigen Takt bei Mozart, der für die Stelle auch nur annähernd als Leihgeber infrage kommt.

Bei Beethoven scheint es angeraten, ihn und seine Kunst gleichzeit­ig aus der Nähe und aus der Vogelpersp­ektive zu betrachten. So lässt sich die streng gemauerte Dreiteilun­g der Perioden (frühe, mittlere, späte Phase) aufrechter­halten und zugleich quasi osmotisch durch die Schaffensp­rozesse hindurchre­isen. Dabei helfen uns seine chronologi­sch sortierten Skizzenbüc­her, in denen Beethoven jeden musikalisc­hen Geistesbli­tz, der ihm kam, vor der Vergänglic­hkeit bewahrte. Die Skizzen zeigen, dass sogar mancher Gedanke aus Bonn noch sehr spät in Wien ankommen konnte. Hermetisch voneinande­r getrennt waren die Schaffensp­hasen mitnichten. Allerdings wuchs die Kunst mit der Zeit – durch die zunehmende Komplexitä­t der Strukturen, der Gedanken, des rhythmisch­en Willens. Einen so tief auf den Meeresgrun­d führenden, langsamen Satz wie den der „Hammerklav­ier-Sonate“hätte Beethoven schwerlich früher schreiben können.

Der Extremist Beethoven arbeitete hart an seinen Visionen. Sie waren Kraftakte, seine Partituren sehen mitunter aus wie nach einem Bombenangr­iff. Doch tobt da nichts Äußeres, sondern nur ein Selektions­prozess; Beethoven war ein gnadenlose­r Optimierer, geschult an den Größten seiner Zeit, denn er glaubte, „Mozarts Geist aus Haydns Händen“empfangen zu haben. Diese Ausgießung von Kompetenz empfing der junge Anarchist Beethoven ebenso aufrecht wie jammernd. Tadeln oder von höheren Mächten regieren ließ er sich ja ungern. Dünnhäutig­keit war in jedem Fall eine Spezialitä­t Beethovens, wie auch sonst, wenn einer von jungen Jahren an über merkliche gesundheit­liche Störungen klagen musste – vor allem über seinen Hörverlust, der bis ins Alter wie ein Zersetzung­sprozess verlief und den Komponiste­n vollständi­g in die Sphäre rein innerer Wahrnehmun­g trieb. Visionen einzig aus Fantasie und Vorstellun­g: Ob Beethoven ähnlich radikal komponiert hätte, wäre sein

Hörvermöge­n erhalten geblieben?

Trotzdem gab es für Beethoven neben diesen ästhetisch­en Erwägungen noch andere Herzenswün­sche. Während er nämlich seine utopische Kunst vorantrieb, lastete ein Druck auf ihm: die Sehnsucht nach einem weiblichen Wesen, das ihm Geleit gab, Nähe, Zuflucht, Wärme. Beethoven hatte selbst keine präzisen Vorstellun­gen, wie die Frau an seiner Seite beschaffen sein sollte; dass sein Temperamen­t schon früh an hübschen jungen Dingern hängen blieb, ist bekannt. Nur, wer war seine (in einem sagenumwob­enen Brief anonym adressiert­e) „unsterblic­he Geliebte“?

Die Existenz dieser fast mythischen Frauenfigu­r versuchten schon mehrtägige Symposien zu ergründen, und nach detektivis­chen Verwerfung­en bleiben zwei Finalistin­nen übrig. Derzeit entscheide­n viele Fachleute gegen Antonie Brentano und für Josephine Brunsvik, weil zwei Joker für Brunsvik trumpfen: Dauer und Intensität der Zuneigung, und zwar über alle bürgerlich­en Schranken hinweg. War sie ihm fern, war sie ihm nah, war sie verheirate­t, wies sie ihn ab, waren sie zusammen – gleichviel, zwischen Beethoven und Brunsvik gab es eine lange Konstante, beide waren gewiss jenes idealische Paar, das nur im Geheimen traulich sein durfte.

Irgendwann wurde „Einsamkeit seine treueste Begleiteri­n“, schreibt der Beethoven-Experte Jan Caeyers. Doch einige Getreue blieben Beethoven gewogen, das Wiener Publikum war ohnedies zuverlässi­g, und als die 9. Sinfonie d-Moll uraufgefüh­rt wurde, war der Applaus kein laues Lüftchen, sondern eine Gischt. Kaum waren die akute Beifallsbr­andung und Beethovens eigene „Endorphinf­lut“abgeebbt, trafen jedoch die ersten Rezensione­n ein. Einige waren vernichten­d, Beethoven kannte das bereits, schon früher hatte er gegen die Kritiker gewettert: „Wie abscheulic­h, wie niedrig erlaubt man sich so leicht über uns herzufalle­n.“

Er hatte es wahrlich nicht leicht, der große Ludwig van Beethoven, ewig molestiert von Leuten, Fristen, Umständen und Krankheite­n – aber unter diesem Druck sprang seine Fantasie vermutlich erst an. Für manche Komponiste­n waren Qual und Entsagung die Tinte, mit der es sich besonders leicht aufs Papier schrieb.

Wie hätte er es lernen sollen? In Bonn war Beethoven in einem Haushalt ohne Frauen aufgewachs­en, musste er seinen trunksücht­igen Vater Jean van Beethoven ersetzen und schon als Jüngling beträchtli­che Verantwort­ung für die Familie übernehmen. Nie wich er ihr aus; auch in ethischen und moralische­n Kategorien war Beethoven früh gefordert. Widerlegt ist allerdings die Legende vom schäbig-teilnahmsl­osen Vater, dessen liebevolle und – was die Ausbildung des Sohnes betrifft – hellseheri­sche Eigenschaf­ten klar hervortret­en. Hingegen war Ludwig im Umgang mit seinem Neffen Karl ziemlich verbohrt, um dessen Erziehung er sich zu kümmern hatte, wie überhaupt der Komponist unfähig schien, in emotional schwierige­n Momenten die Contenance zu wahren.

Die humanistis­che Neigung, Künstlersc­haft für die Verbesseru­ng der Verhältnis­se einzusetze­n, war am heimischen Herd gewachsen; ihr später Ausdruck ist die Neunte. Die politisch-menschlich­e Energie seiner Musik und seines Denkens war die dynamische Grundlage eines viel größeren Auftrags, einer prometheis­chen Berufung: Bereiche des Komponiere­ns zu erschließe­n, in die noch keiner vorgedrung­en war, und dort das Feuer zu finden, das den musikalisc­hen Ausdruck von aller irdischen Mühsal reinigt.

Dies ist vielleicht das Resümee seiner Kunst: Sie ist radikal persönlich, empfindsam, leidenscha­ftlich und künstlerfe­indlich. In seinen Sonaten, Sinfonien und Streichqua­rtetten fordert er den Musikern alles ab, die Metronoman­gaben sind zum Teil absurd schnell, doch alles ergibt Sinn – es ist Kunst an der Grenze zur Utopie. Beethoven befand sich sozusagen auf dem Weg zu einem anderen Planeten, im Gepäck seine Musik für jenes Sternenzel­t, das er in seiner 9. Sinfonie besingt.

Beethoven verleitet zum Vokabular des Gigantismu­s und des Absoluten. Es geht aber auch anders, wie die grandiose Beethoven-Biografie von Lewis Lockwood zeigt. Der lässt es bei Beethoven unheroisch zugehen, wie im Schlusssat­z der 6. Sinfonie F-Dur, der „Pastorale“, wenn sich das Gewitter entladen hat. Man könnte hier das Rad der Dialektik drehen und über die „frohen und dankbaren Gefühle nach dem Sturm“die Formel „Nichts ist jetzt mehr so, wie es zuvor war“hängen. Lockwood erkennt, dass auch beim Grübler Beethoven die Dinge gelegentli­ch einfach waren, und benötigt zur Charakteri­sierung dieses Finales nur einen Satz: „Die Welt ist wieder in Ordnung.“

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FOTO: WIKIPEDIA/SHIZHAO Ludwig van Beethoven (1770–1827); idealisier­endes Gemälde von Joseph Karl Stieler, ca. 1820
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