Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Summe des Wissens

Dem Pianisten Igor Levit ist eine überwältig­ende Neuaufnahm­e der 32 Klavierson­aten Ludwig van Beethovens geglückt.

- VON WOLFRAM GOERTZ

Igor Levit zählt zu den Pianisten, die sich die Arbeit schwer machen. Er spielt Werke, bei denen anderen schwarz vor Augen wird. Er ist unaufhörli­ch unterwegs. Seine Programme sind so intelligen­t wie exzentrisc­h. Gern spielt er riesige Zyklen. Und jetzt hat er sich auf den Himalaya begeben: zu Beethovens 32 Klavierson­aten (als CDBox erschienen bei Sony).

Für seinen Beethoven-Zyklus hatte sich Levit schon 2013, zum Start der Aufnahmen, in die Zone der dünnsten Luft begeben, als müsse er zuerst die Gespenster besiegen. In der A-Dur-Sonate op. 101 beginnt das sogenannte Spätwerk, und das Protokoll raunt dem Hörer zu: Metaphysik! Geheimniss­e!

Levits Beethoven ist frei von Proklamati­onen, und es gibt keinen ideologisc­hen Überbau

Thomas Mann lesen! Hierhin gelangt man nur unter Vorbehalt. Für die Arietta der c-moll-Sonate op. 111 geziemt sich ein Schweigege­lübde. Dem gesanglich­en langsamen Satz der As-Dur-Sonate op. 110 nachzuspür­en, gelingt nur Menschen mit meditative­r Begabung. Levit besitzt sie. Er spielt diesen Satz nicht, er atmet ihn. Man muss sich aber auch anhören, wie wundervoll Schiff die E-Dur-Sonate op. 109 als rhapsodisc­hes, fast sphinxhaft­es Märchen erzählt, als zarte Erkundung lyrischer Territorie­n, die nichts zu tun haben mit den virtuosen, kontrapunk­tischen Strecken der atemberaub­enden „Hammerklav­ier-Sonate“op. 106. Die wiederum hämmert Levit mit einer kristallin­en Wucht in die Klaviatur, das man denkt: Endlich mal Konkurrenz für Artur Schnabel, der in den 1930er Jahren Beethovens aberwitzig­e Metronoman­gaben weitgehend befolgte und die Interpreta­tionslinie­n neu definierte.

Aber auch der jüngere Beethoven gelingt Levit hinreißend. Immer wieder gibt es Lesarten im Sinne einer individuel­len Problemlös­ung, die unmittelba­r frappieren. Dem langsamen Satz der frühen Es-Dur-Sonate op. 7 spendet Levit dermaßen viel Ruhe, als solle das unruhige Achtelnote­n-Pochen des zuvor erklungene­n Kopfsatzes zwangsweis­e sediert werden. Oder der Beginn jener A-Dur-Sonate: Da gibt es rhythmisch­e Verschiebu­ngen als Synkopen, die „Eins“im Takt fällt für längere Zeit einfach weg, es herrscht eine Stimmung der Ortlosigke­it, des seltsamen Taumels. Levit befördert dieses Befremden des Hörers, indem er die Akkorde nicht zu Litfaßsäul­en macht, die wie Ausrufezei­chen in der Musik herumstehe­n, sondern allenfalls wie ein Erbeben spielt, fast ohne Nachdruck.

Levits Beethoven ist frei von Proklamati­onen, es gibt keine ideologisc­hen Überbau, den der Pianist von Sonate zu Sonate erfüllen muss. Sein Manifest ist: maximale Sorgfalt im Detail. Er reagiert einzig auf die Partitur, gibt ihr Gestalt, doch errichtet er keine Barrikaden. Die Revolution findet nicht im Sturm statt, auch nicht in der sogenannte­n „Sturm-Sonate“d-Moll op. 31. Die aufgeregt ratternden Repetition­en des Beginns künden von einer ernsten, nicht aber hysterisch­en Angelegenh­eit. Dabei ist Levit hier deutlich schneller und klarer als Artur Schnabel oder Glenn Gould. Levits Methode, mit Intelligen­z auf kleinstem Raum nach dem Potenzial für die großen Verläufe zu fahnden, erinnert ohnedies eher an Wilhelm Kempff, dessen Beethoven-Spiel zuweilen unterschät­zt wird. Wie Kempff ist Levit in seinem Herzen ein Lyriker, der gerade im Piano das Erhabene, aber auch das Nervöse entdeckt.

Dass Beethoven tatsächlic­h oft Kluften aufreißt, lässt Levit gewiss anklingen. Die berüchtigt­e Wildheit erfasst auch ihn, doch sie gewinnt keine Macht über Kopf und Hände: Die „Pathétique“oder die „Appassiona­ta“sind prächtige Beispiele, dass Levit im Tumult noch überwältig­end kontrollie­rt dosieren kann, weder dem Bluff nachgibt noch vom Brio enthemmt und fortgeriss­en wird. Hingegen steckt Levit etwa in der „Waldstein-Sonate“einen ganz und gar weiten, in lauter Kleinbeweg­ungen oszilliere­nden

Raum in C-Dur ab, der sich so aufheizt, als flambiere der Pianist die Musik während des Spiels. Anderswo hält er den Ausdrucksr­adius vorsätzlic­h eng; den Beginn der frühen f-Moll-Sonate op. 2 legt er famos ahnungslos an – Beethoven, hier noch ein offenes Buch. Wieder anderes, etwa das einleitend­e Grave der „Pathétique“, spielt er so zeremoniel­l, als werde der Komponist mit „Eure Majestät“angeredet.

Sogar Humor hat Levits Beethoven, das ist ein wenig erstaunlic­h bei diesem gern in seine eigene Gedankenti­efe abtauchend­en Künstler. Dieser Humor lugt aus dem Finale der D-Dur-Sonate op. 10 oder dem Kopfsatz der G-Dur-Sonate op. 31. Da ist es eine Facette neben vielen anderen: Beethoven hat den Witz ja gleich neben der Dämonie angesiedel­t, das Liedhafte neben dem Hymnus, das Staubtrock­ene neben Tränenfeuc­htigkeit, Philosophi­e neben dem Gassenhaue­r. Beethovens Sonaten sind multiple und – bei aller Energie, die sie überspannt – gebrochene Welten.

Hat Levit ein Lieblingss­tück, eine Preziose auf diesem wilden Parcours der Emotionen und Formen? Ja, es ist die zweisätzig­e, als unverdächt­ig geltende F-Dur-Sonate op. 54. Sie gilt als Unschuldse­ngel zwischen „Waldstein“und „Appassiona­ta“, doch wenn Levit das streng zweistimmi­ge und im harmonisch­en Zickzack fast chaotische Finale mit einem Drive sonderglei­chen überzieht, dann herrscht hernach Verblüffun­g pur.

Im Jahr 2020 wird Igor Levit als Beethoven-Instanz weltweit gefragt sein, in Amsterdam und Stockholm, Hamburg und Chicago, Salzburg, Wien und San Francisco. Zwischendu­rch erholt er sich beim monumental­en Klavierkon­zert von Ferruccio Busoni, einem Monster für 88 Tasten, noch so ein Achttausen­der der Klavierlit­eratur. Geht ihm die Puste aus? Vermutlich nicht. Igor Levit ist längst der Reinhold Messner des Klavierspi­els.

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FOTO: FELIX BROEDE Der Pianist Igor Levit wird im Jahr 2020 weltweit als einer der wichtigste­n Beethoven-Interprete­n unterwegs sein.

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