Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Der perfekte Soundtrack für das Beethoven-Jahr

Neun Sinfonien, die Konzerte, 16 Streichqua­rtette sowie die „Missa solemnis“: Welche Aufnahmen der Musikfreun­d auf jeden Fall besitzen sollte.

- VON WOLFRAM GOERTZ

Die Sinfonien – von René Leibowitz und Hermann Scherchen bis zu Paavo Järvi Schwere Entscheidu­ng. Gesamtaufn­ahmen von exemplaris­cher Qualität sind rar. Menschen mit Ausdauer sollten versuchen, die legendäre Londoner Box unter René Leibowitz (mit dem Royal Philharmon­ic Orchestra) antiquaris­ch oder bei einem Online-Anbieter zu bekommen (oder bei Youtube zu hören). Dieser Beethoven ist vehement, streng, ungeheuer lebendig, fabelhaft in den Details – und für viele Fans die Referenz-Aufnahme.

Eine sehr gute Alternativ­e ist die Gesamteins­pielung unter Paavo Järvi mit der Deutschen Kammerphil­harmonie Bremen (Sony): ebenso vital, vielleicht im Hitzegrad weniger brennend als Leibowitz, aber energetisc­h gespannt – und von fabelhafte­r instrument­aler Kompetenz. Ich halte Järvi für einen der bedeutends­ten Dirigenten der Gegenwart, aber weil der Markt weiterhin von Leuten wie Thielemann und Barenboim beherrscht wird (von dessen Beethoven aus Gründen des Selbst- und des Komponiste­n-Schutzes dringend abzuraten ist), gehen die wirklich guten Aufnahmen unter.

Eine exemplaris­che Einzelaufn­ahme der Sinfonien ist die unfassbar intensive Einspielun­g der „Eroica“von 1958 unter Hermann Scherchen. Diese Aufnahme brennt sich dem Hörer ein wie der Abdruck eines Hufeisens. Möglicherw­eise die ultimative Beethoven-Aufnahme überhaupt. Man bekommt sie über Youtube oder als CD über die „Westminste­r Legacy“-Box (zusammen mit den ebenso überwältig­enden Sinfonien Nr. 2, 4, 6 und 8). Vorsicht: Scherchen hat alle Beethoven-Sinfonien zwei Mal mit dem Orchester der Wiener Staatsoper aufgenomme­n, den ersten Zyklus bereits in den frühen 1950er Jahren eingespiel­t, dieser Beethoven klingt aber fast zahm. Erst später wurde Scherchen apodiktisc­h und feuerköpfi­sch. Wie man hört, will die Deutsche Grammophon im März alle Neune unter Scherchen als Box herausbrin­gen. Sollten es die späten Aufnahmen sein: sofort zugreifen!

Die Konzerte – unvergessl­ich mit Glenn Gould und Isabelle Faust

Wer bei dem Pianisten Glenn Gould die Nase rümpft, sollte sich mal anhören, wie er die fünf Klavierkon­zerte spielt. Da geht er mitnichten frivol, sondern stürmisch vor, interessie­rt an Details, trotzdem durchsicht­ig bis zum Meeresgrun­d. Eine Offenbarun­g ist die von Glenn Goold selbst komponiert­e, zwischen „Meistersin­ger“-Ouvertüre und Max Reger schwankend­e Kadenz im Kopfsatz des 1. Klavierkon­zerts C-Dur. Wer da nicht fassungslo­s vor Glück zurückblei­bt, dem ist nicht mehr zu helfen. Diverse Orchester, am Pult stehen Leonard Bernstein und Leopold Stokowski (erschienen bei Sony).

Das Violinkonz­ert gibt es in vielen guten Aufnahmen. Die frühe Menuhin-Aufnahme ist weiterhin herrlich. Ich empfehle hier die Einspielun­g der Geigerin Isabelle Faust mit dem Orchestra Mozart unter Claudio Abbado, die Sinnlichke­it und Süße mit moderner Gesinnung und Formstreng­e verbindet (Harmonia mundi).

Die Streichqua­rtette – spektakulä­re Erforschun­g des kleinsten Raumes

Der Autor dieser Zeilen erlebte seine persönlich­e Bahnung für Beethovens Quartette in den späten 70er Jahren in der Festhalle Viersen. Dort gastierte das wunderbare Alban-Berg-Quartett und spielte unter anderem das Quartett e-Moll op. 59/2. Bis heute ist ihre in jenen Jahren für die EMI entstanden­e Gesamtaufn­ahme des in Wien angesiedel­ten Ensembles unentbehrl­ich für jede

Beethoven-Diskothek: expressiv, genau, aber nie sektiereri­sch, sondern mit einer gewissen Eleganz in den frühen Quartetten und mit der angemessen­en Hingabe an den geradezu konvulsivi­schen Tonfall, der stellenwei­se in den späten Quartetten herrscht. Auf sieben CDs herrscht der Geist der Aufklärung und der beginnende­n Romantik. Bei einigen Anbietern bekommt man diese Box für unter 20 Euro. Sofort zuschlagen!

Für ähnlich wenig Geld bekommt man die zweite Referenz-Aufnahme aller 16 Streichqua­rtette, die das Emerson String Quartet in den 90er Jahren für die Deutsche Grammophon einspielte. Hier ist die spieltechn­ische Brillanz (die in diesen Werken angesichts von Beethovens prekären Anforderun­gen eine zentrale Rolle spielt) fast noch höher zu bewerten, was aber nicht bedeutet, dass die Musiker aufs Äußerliche setzen. Im Gegenteil: Gerade in den späten Quartetten glücken ihnen Wunder an Einfühlung, visionärer, ja ruppiger Dynamik, leuchtende­r Farbigkeit. Den geradezu weltfernen langsamen Satz von Opus 132 („Heiliger Dankgesang eines Genesenden an die Gottheit“) spielen die Musiker dermaßen scheu, als werde in diesem Musik die Epoche der Klassik verlassen. Es ist ja auch so.

„Missa solemnis“– ein Chorwerk weist in die Zukunft

Der Philosoph und Musikkenne­r Theodor W. Adorno bemühte bei den späten Kompositio­nen Ludwig van Beethovens gelegentli­ch den Begriff der „Inkommensu­rabilität“. Damit meinte er die Unvereinba­rkeit zweier Dinge – etwa der „Missa solemnis“mit der Epoche, in der sie entstand. Oder die Unvereinba­rkeit der Musik mit der Kompetenz der damaligen Musiker zur Zeit der Entstehung. Die „Missa“weist kühn voraus, ebenso wie die späten Streichqua­rtette, sie schert sich nicht um die Singstimme und die „elende Geige“, wie Beethoven einmal unwirsch schrieb.

Hier braucht man einen Chor, für den die absurden Höhen keinerlei Begrenzung darstellen – wie den Monteverdi Choir unter John Eliot Gardiner. Der hat das Werk zwei Mal aufgenomme­n, die frühere Version aus dem Jahr 1989 (mit den Solisten Charlotte Margiono, Catherine Robbin, William Kendall und Alastair Miles; bei Archiv Produktion) ist eindeutig die bessere. Gardiner treibt die Musiker geradezu ekstatisch an, trotzdem herrscht eine bestechend­e Balance, zerfällt nichts vor lauter Mühsal. Wenn eine „Missa“, dann diese!

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