Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Reif für die Insel
Der NDR wollte den „Tatort“mit Til Schweiger neu erfinden. Tatsächlich hat der Wechsel der Autoren Gutes bewirkt.
HAMBURG Es gibt keinen besseren Ort, um gleichzeitig mitten in Hamburg und im Nichts zu sein, als auf Neuwerk. Die vor Cuxhaven gelegene Insel zählt 40 Einwohner und gehört ganz offiziell zum Bezirk Mitte der Freien und Hansestadt Hamburg. Dass sich der Großstadt-Macho und „Tatort“-Kommissar Nick Tschiller (Til Schweiger) auf dieser Insel sammeln soll, ist daher nachvollziehbar. Um die drängendste Frage der Nordsee-Urlauber vorweg zWu beantworten: Tschiller hat Neuwerk nicht in die Luft gesprengt; es hat dort auch sonst kein Massaker stattgefunden.
Der NDR hat sich tatsächlich dazu entschieden, das Format des Schweiger-„ Tatorts“neu zu erfinden. Von einem Missverständnis zwischen Machern und Zuschauern spricht ein NDR-Verantwortlicher, wenn er auf die vergangenen Episoden mit Schweiger blickt. Einen Reset habe man sich gewünscht. Der Sender bittet die Zuschauer ernstlich darum, Nick Tschiller eine neue CWhance zu geben. Das Ausmaß der Demut wirkt im Zusammenhang mit Til Schweiger erfrischend.
Der neue Film „Tschill out“schaut nun nicht mehr so aus, als sei ein Autor der RTL-Serie „Alarm für Cobra 11“auf Ecstasy mit dem Drehbwuch beauftragt worden. Die Zahl der Explosionen, Schießereien und folglich auch der Toten wurde drastwisch reduziert. Eoin Moore und Anika Wangard, die oft für den Rostocker „Polizeiruf“arbeiten, haben dem Hamburger „Tatort“eine neue Tonalität verliehen. Eine Reihe guter Entscheidungen.
Tschiller musste zuletzt den Tod seiner Ex-Frau verkraften, und darüber ist seine Tochter Lenny (Luna Schweiger) auf Distanz zu ihm gegangen. Sie hält sich in Australien auf und stellt Nähe zu ihrem Vater höchstens über Facetime her. Lenny war es, die Tschiller, über dem ein Disziplinarverfahren schwebt, einen Aufenthalt auf der Insel Neuwerk empfahl. Tschiller arbeitet dort in einem Haus mit schwer erziehbaren und/oder traumatisierten Jugendlichen, und es ist natürlich kein Zufall, dass er in diesen Kreis hervorragend hineinpasst.
Aber der Ort, an dem das alte Leben das neue Leben nicht einholt, muss noch erfunden werden. Nicht einmal der Umstand, dass Neuwerk nur einmal am Tag mit einer Fähre an das Festland angebunden wird, verhindert eine Verwicklung. Man könnte sagen: Du kriegst den Tschiller aus Hamburg, aber Hamburg nicht aus Tschiller.
Während Tschiller einen Jungen, den er Nietzsche nennt, dazu bringt, eine Tomatensauce und ein Messer durch die Küche zu werfen, versucht sich sein Partner Gümer (Fahri Yardim) mit seiner neuen Kollegin Robin Pien (Zoe Moore). Das Verhältnis ist zu Beginn angespannt. Gümer zu Pien am Telefon: „Du machst jetzt erstmal, was ich dir sage.“Rückfrage Pien: „Herr Gümer?“.
Der Transport zweier Kronzeugen geht schief. Die Nix-Brüder, Angehörige einer linksextremen Band mit Kontakt zum Verfassungsschutz, sollen nach Menorca überstellt werden. Gümer fährt die beiden, Pien erwartet sie auf der Insel. Bei einer Pinkel-Pause wird Eddie, einer der Brüder, erschossen. Den anderen, Tom (Ben Münchow) befördert Gümer mit einer Fähre, genau, nach Neuwerk zu seinem alten Kumpel Tschiller.
Die Nix-Brüder scheinen auf irgendeine Weise in ein Drogenportal im Darknet verstrickt zu sein, aber so ganz schlüssig erscheint den LKA-Kommissaren die Erklärung für die Jagd auf Familie Nix nicht. Auf dem Portal gibt es vornehmlich weiche Drogen zu kaufen.
Der Aufenthalt auf Neuwerk verläuft, wie zu erwarten war, nicht ohne Komplikationen. Tschiller gefährdet seine Liebschaft zur Herbergsmutter der Jugendlichen Patti Schmidt (Laura Tonke), indem er sich wieder auffallend wie Tschiller verhält. Dem neuen Format schadet das nicht, im Gegenteil, es sorgt für eine gewisse Glaubwürdigkeit. Der neue Schweiger-„Tatort“hat tatsächlich eine Chance verdient.
„Tatort: Tschill Out“, So., Das Erste, 20.15 Uhr