Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Das gute Recht von Stephan E.

- VON HENNING RASCHE

Die Idee, Walter Lübcke zu töten, habe er mehrfach gehabt. Zweimal hätte er eine Pistole eingesteck­t und sei zum Haus des Kasseler Regierungs­präsidente­n gefahren, nach Wolfshagen. Und zweimal sei er froh gewesen, ihn doch nicht getötet zu haben. Als er aber das dritte Mal in Wolfshagen war, da hätte er Lübcke wortlos erschossen. So hat Stephan E. im Sommer 2019 den Mord gestanden. Einen Mord, der Deutschlan­d aufgewühlt hat. Einen Mord, den Stephan E. mittlerwei­le gar nicht mehr begangen haben will.

Rechtsextr­emist E. hat mit neuem Anwalt, einem Pegida-Sympathisa­nten, das Geständnis zunächst widerrufen und nun seinen Komplizen beschuldig­t. Der Neonazi Markus H., den E. anfangs bezichtigt­e, die Waffe besorgt zu haben, soll Lübcke „versehentl­ich“erschossen haben. Man darf die Wendungen des Falls für überrasche­nd, die mäandernde­n Äußerungen E.s für unglaubwür­dig halten. Erstens, weil am Tatort DNA-Spuren von Stephan E. gefunden wurden, von Markus H. hingegen nicht. Und zweitens, weil der Widerruf des Geständnis­ses nach dem Wechsel des Anwalts wie reines Kalkül wirkt, als hoffe E. bloß auf eine mildere Strafe.

Klüger aber ist es – auch geboten –, Stephan E. nicht vorzuverur­teilen. Welche Wendungen Strafverfa­hren haben können, war zuletzt beim NSU-Prozess hinlänglic­h zu beobachten. Es ist das gute Recht von Beschuldig­ten, Geständnis­se zu widerrufen. Es ist das gute Recht von Beschuldig­ten, die Strategie zu wechseln. Die Ermittlung­sbehörden werden wissen, wie sie damit umzugehen haben. Im Vordergrun­d steht nicht die ungeduldig­e und neugierige Öffentlich­keit, die Unklarheit­en immer schwerer erträgt. Im Vordergrun­d steht die Ermittlung des Tathergang­s – die Wahrheit. Auch, wenn es schwer fällt.

BERICHT KOMPLIZE IM FALL LÜBCKE BESCHULDIG­T, TITELSEITE

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