Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Hüterin der Menschenrechte
Obwohl Autokraten den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte offen infrage stellen, fällen die 47 Richter unbeirrt ihre Urteile. Die Deutsche Anja Seibert-Fohr gehört seit Anfang des Jahres dazu.
STRASSBURG Europa ist manchmal doch einen Schritt weiter. Während die Bundesrepublik Personal für ihre höchsten Gerichte überwiegend auf undurchsichtigen Wegen findet, wählte man für den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eine Stellenanzeige. Gesucht wurde: ein deutscher Richter (m/w/d) mit „hohem sittlichen Ansehen“oder „Rechtsgelehrte von anerkanntem Ruf“. Wer sich von derart voluminösem Vokabular angesprochen fühlt, hat Pech. Die Stelle ist besetzt.
Obwohl sich ihr Lebenslauf liest, als habe sie in den vergangenen 49 Jahren ausschließlich auf diese Stellenanzeige gewartet, hat Anja Seibert-Fohr sie gar nicht bemerkt. Es brauchte Bekannte, die ihr sagten: Die suchen dich.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg liegt an einem Ausläufer des Rheins und sieht, je nach Perspektive, wie eine Ansammlung von Keksdosen oder wie ein Froschgesicht aus. An diesem sonderbaren Ort wachen 47 Richter über die Einhaltung von Menschenrechten in 47 Staaten. Anja Seibert-Fohr, 50, Völkerrechtlerin an der Universität Heidelberg, gehört seit 1. Januar zu ihnen.
Es gibt nicht viele Leute, die einem auf Anhieb erklären können, was genau der EGMR macht, was ihn von anderen obersten Gerichten unterscheidet oder warum das überhaupt wichtig ist. Noch weniger Leute kennen eine Richterin oder einen Richter namentlich. Die Arbeit in Straßburg findet, bis auf ein paar nicht unwesentliche Ausnahmen, im Verborgenen statt. Kein ganz schlechtes Zeichen für ein Gericht.
Das aber ist bloß der deutsche Blick. Russland und die Türkei gehören zu den Ländern, in denen die EGMR-Richter am häufigsten Verletzungen von Menschenrechten rügen. Es liegt ein wenig in der Natur der Sache, dass dem EGMR dort eine höhere Aufmerksamkeit zuteil wird.
Die Autokraten Wladimir Putin und Recep Tayyip Erdogan haben daher, gelinde gesagt, ihre Probleme mit dem Gericht. Immer wieder drohen sie, die Urteile nicht zu befolgen. Russland hat sogar die Zahlungen an den Europarat eingestellt, der die Mittel des EGMR bereitstellt. Das führte dazu, dass Stellen nicht nachbesetzt werden konnten.
Anja Seibert-Fohrs Stelle ist nicht betroffen. Alle 47 Mitgliedstaaten des Europarats (nicht zu verwechseln mit dem Europäischen Rat der EU) entsenden einen Richter an den EGMR. Für Deutschland war Angelika Nußberger nun seit 2011 in Straßburg, seit 2017 war sie auch Vizepräsidentin des Gerichts. 2018 wurde Nußberger als mögliche künftige Vizepräsidentin des Bundesverfassungsgerichts gehandelt, aber das wurde dann doch ein Mann von der CDU: Stephan Harbarth. Ende des Jahres lief Nußbergers Amtszeit ab, Anja Seibert-Fohr folgte ihr nach.
Als ihre Bekannten sie auf die Stelle aufmerksam gemacht hatten, meldete Seibert-Fohr ihr Interesse an. Sie kam mit Christiane Schmaltz, Richterin am Bundesgerichtshof, und dem Gießener Völkerrechtler Thilo Marauhn in die engere Auswahl. Einige Gremien befragten die Kandidaten, zuletzt der Richterwahlausschuss der Parlamentarischen Versammlung des Europarats. „Es war wie ein drittes Staatsexamen“, sagt die Juristin.
Anja Seibert-Fohr sollte dort erklären, wie sie gedenkt, 47 Richter aus 47 Staaten unter einen Hut zu bekommen. Da hatte sie es leicht und verwies auf ihre Biografie.
Schon während des Jurastudiums in Bonn entschied sie sich für den Schwerpunkt Völkerrecht. Damals debattierte sie viel über Menschenrechte im Jugoslawien-Konflikt. Sie promovierte 2004 in den Vereinigten Staaten über Menschenrechte und habilitierte sich 2012 in Heidelberg über Verfassungsrichter. 2020 wird sie gewissermaßen zu einer leibhaftigen Kombination beider Arbeiten: zur Verfassungsrichterin für Menschenrechte.
Während ihrer Zeit als Professorin in Göttingen wurde Seibert-Fohr in den Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen berufen. Das ist zwar kein Gericht, aber auch dort gehen Beschwerden wegen möglicher Menschenrechtsverletzungen ein. Fünf Jahre saß sie in dem Ausschuss, der in Genf tagt, und diese fünf Jahre sind auch der Grund, warum sie die Frage in Paris nicht nervös gemacht hat. Statt 47 Staaten wie im Europarat sind bei den Vereinten Nationen 197 Staaten organisiert.
Der EGMR entscheidet auf Grundlage der EMRK, der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten. Das klingt reichlich abstrakt und vor allem reichlich weit weg. Aber es gibt einige Urteile, die in Deutschland einige Wirkung entfaltet haben:
2004 schränkte der EGMR im Falle von Caroline Prinzessin von Hannover (damals von Monaco) das Recht der Boulevard-Presse ein, Paparazzi-Bilder zu veröffentlichen.
2010 entschied der EGMR im Falle des Frankfurter Entführers und Mörders eines Elfjährigen, Magnus Gäfgen, dass auch die Androhung von Folter unmenschlich ist.
2011 stärkte der EGMR die Meinungsfreiheit von Arbeitnehmern, nachdem eine Berliner Altenpflegerin gekündigt worden war, weil sie ihren Arbeitgeber angezeigt hatte, um auf Missstände hinzuweisen.
Der EGMR kann für Deutsche die letzte Rettung sein, wenn sie an allen anderen Gerichten scheitern. In anderen Teilen des Kontinents ist der Menschenrechtsgerichtshof so etwas wie die einzige Hoffnung.
Mehr als sechs Jahrzehnte ist es her, dass der EGMR gegründet wurde. Lange ist der Einfluss des Gerichts immer größer geworden, weil Europa immer enger zusammengerückt ist. Die Globalisierung der Welt schlug sich unweigerlich auch im Recht nieder. Es scheint, als sei diese Zeit vorbei. Anja Seibert-Fohr sagt: „Seit dem Zweiten Weltkrieg gab es eine Vielzahl von internationalen Menschenrechtsabkommen.“Der Höhepunkt der Fortentwicklung liege bereits drei bis vier Jahrzehnte zurück. „Die Chance für neue Abkommen ist nun eher gering.“
Ein Grund für einen Abgesang auf den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ist das nicht. Die Zahl der eingehenden Beschwerden ist konstant hoch. Das Gericht wird so schnell nicht überflüssig werden, womöglich wird es sogar dringender benötigt als jemals zuvor.
Anja Seibert-Fohr schreckt all das nicht ab. Sie sagt: „Kompliziert war es am EGMR schon immer.“Sie freut sich auf das Gericht, auf ihre Aufgabe, auf Straßburg. Putin und Erdogan halten die neue Hüterin der Menschenrechte nicht auf.