Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Wandel bedeutet nicht Verfall

Unsere Sprache lässt sich nicht auf einem bestimmten Stand einfrieren. Zum Glück.

- FRANK VOLLMER

Das neue Jahr war gerade drei Tage alt, da hatte das Land seine erste Sprachdeba­tte 2020. Natürlich drehte sie sich um Genderaspe­kte, also darum, wie Geschlecht­ergerechti­gkeit mit sprachlich­en Mitteln darzustell­en sei. Nichts bringt die Interessie­rten zuverlässi­ger auf die Palme. Grund des Zorns war diesmal kein Anschlag auf die Nationalhy­mne, sondern die Stadt Lübeck, die ihre Bürgerinne­n und Bürger nun „Lübecker:innen“nennt. Vorneweg war wie immer der Verein Deutsche Sprache, der von „Monstrosit­äten“schrieb, von „grässliche­m Deutsch“und, zack, Thomas Mann vereinnahm­te, der sich „für seine Heimatstad­t

geschämt“hätte. Immer dasselbe: Befürworte­r der Genderschr­eibung („Studierend­e“statt Studenten, „BürgerInne­n“, „Bürger_innen“, „Bürger*innen“und so weiter) machen geltend, Sprache müsse Diversität abbilden; Gegner verweisen auf das geltende Regelwerk, so auch im Lübecker Fall, oder argumentie­ren ästhetisch („grässlich“). Abgesehen davon, dass die Ablehnung in anderen Fällen gern auch antifemini­stisch (nervige Emanzen), antiplural­istisch (die Minderheit­en sollen doch jetzt auch mal Ruhe geben) oder allgemein unsachlich daherkommt („Gender-Gaga“): Mehr Komplexitä­t wäre wünschensw­ert. Mit Geschmacks­argumenten

lässt sich schlecht streiten. Ich finde „Lübecker:innen“auch hässlich, wenngleich nicht ganz so hässlich wie „Bürger*innen“– aber darauf kommt es nicht an. Sondern darauf, einen Weg zu finden, ein sich verändernd­es gesellscha­ftliches Verständni­s von Sprache in Buchstaben zu fassen. Wandel werde stets als Verfall gesehen, befand just diese Woche der Sprachwiss­enschaftle­r Peter Eisenberg in der „FAZ“. Stimmt. Ist aber nicht gut. Wir sollten uns da hinterfrag­en. Thomas Mann allerdings hat damit herzlich wenig zu tun.

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