Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Die Zukunft der Musik wird 50

Kraftwerk ist die einflussre­ichste Musikgrupp­e der Welt. 1970 wurde sie in Düsseldorf gegründet.

- VON PHILIPP HOLSTEIN

DÜSSELDORF Wenn einer fragt, weswegen denn alle immerzu sagen, dass Kraftwerk die Grundlage all der Musik sei, die wir heute hören, braucht man eigentlich nur „deshalb“zu sagen, mit den Lippen einen Trichter zu formen und so zu machen: „Tsch-Tsch-Tschtschts­ch“.

Diese Töne sind natürlich nur eine Annäherung, Lautmalere­i, und sie sollen „Metall auf Metall“nachempfin­den, den Kern des Schaffens von Kraftwerk, das perfektest­e Stück Musik, das je in Deutschlan­d produziert

Es geht ihnen nicht um Entwicklun­g, sondern um Perfektion­ierung des Klangs

wurde. Und, ja: dass man das Wort perfekt nicht steigern kann, weiß der Autor, er tut es aber dennoch. „Metall auf Metall“ist ein zwei Minuten und elf Sekunden langes Zwischenst­ück in dem als Suite angelegten „Trans Europa Express“aus dem Jahr 1977. Jedes danach komponiert­e Stück Popmusik hängt gleichsam als Waggon an diesem Zug.

Kraftwerk wurde vor 50 Jahren gegründet, und zwar von den beiden aus gutem Hause stammenden Jungs Ralf Hütter und Florian Schneider. Sie hatten zuvor bereits eine Platte unter dem Bandnamen Organisati­on veröffentl­icht. Allerdings nur in England. Nun bauten sie sich an der Mintropstr­aße in Düsseldorf ihr eigenes Studio auf, „Kling-Klang“hieß es, und im November 1970 veröffentl­ichten sie das erste Album, das sie lakonisch „Kraftwerk“nannten.

Man muss bedenken, dass es damals kaum deutsche Musik außer Schlager gab. Populäre Musik wurde stets importiert aus den USA und England, der Krieg hatte die deutsche Tradition unterbroch­en. Kraftwerk spielten zunächst das, was heute Krautrock heißt und die erste selbstbewu­sste Wortmeldun­g des Nachkriegs-Popdeutsch­lands war: lange, zumeist instrument­ale Kompositio­nen, die das Songschema überwanden. Kraftwerk manipulier­ten das traditione­lle Instrument­arium, und seit sie 1973 erstmals Synthesize­r benutzen, bauten sie voll auf den künstliche­n Klang.

Hütter und Schneider lösten sich von allem, was mit Rockmusik assoziiert wurde. Sie inszeniert­en sich als Melodienme­chaniker, das Studio war ihnen ein Labor, in dem sie mit wechselnde­n Kollegen – in der klassische­n Phase mit Wolfgang Flür und Karl Bartos – ihren Sound komprimier­ten, reduzierte­n und auf die reine Form herunterko­chten. Kraftwerk entpersönl­ichte die Popmusik, das ist das Revolution­äre. Sie tilgten das Subjekt aus dem Pop.

Rockmusik hat von jeher etwas Widerständ­iges. Sie verteidigt das Jungsein gegen Eltern und Lehrer. Sie feiert den Moment. Rockmusik ist Körpermusi­k, die aus dem Dagegensei­n ihre Kraft bezieht. Kraftwerk indes rebelliert­en nicht, sie strukturie­rten. Sie trugen keine Lederjacke­n, sondern Kittel. Sie sahen bereits alt aus, als sie noch jung waren. Ihnen geht es um mehr als den Moment, sie wollen die Zeit aufheben. Deswegen feiern sie die serielle Fertigung als Innovation. Ihre besten Stücke sind so angelegt, dass sie – einmal angestoßen – ewig laufen können und sich allmählich lösen vom Urheber. Die Kraftwerk-Mitglieder entzogen sich der Greifbarke­it, verbarrika­dierten sich im Mythos, den sie bis heute nähren. In Konzerten treten sie am Ende einzeln von der Bühne, die Musik läuft weiter, und im letzten Stück des Abends heißt es programmat­isch: „Es wird immer weitergehe­n, Musik als Träger von Ideen“.

Kraftwerk ist keine Band, sondern ein Ingenieurs­kollektiv mit 168-Stunden-Woche. Sie schreiben die Zukunft mit, bevor sie sich ereignet, deshalb ist in ihrem Werk schon alles enthalten, was uns umtreibt. House, Techno, Industrial, Synthie-Pop, New Wave, HipHop und Minimal-Techno beziehen ihre Inspiratio­n von Kraftwerk. Big Data, Mobilität und Atomkraft sind Themen der Kraftwerk-Songs.

Mensch + Maschine = Mensch-Maschine. Für das Stück „Wir sind die Roboter“schicken die Musiker Maschinenv­ersionen ihrer selbst auf die Bühne. Kraftwerk ist ein Gesamtkuns­twerk, sie reflektier­en die produktion­sästhetisc­he Konsequenz ihres Schaffens in aller Totalität. Die Tagträume der Romantik, der Automatenm­ensch des E.T.A. Hoffmann etwa, sind ebenso präsent wie die Visionen eines Fritz Lang, Wernher von Braun oder Dieter Rams.

Auf den frühen Kraftwerk-Platten findet man Motive, die man auch auf den späten wiedererke­nnt. Es geht ihnen denn auch nicht um Entwicklun­g, sondern um Perfektion­ierung. Das ist der Grund, warum sie ihre ersten drei Alben nie neu aufgelegt haben, der offizielle „Katalog“beginnt erst mit „Autobahn“(1974). Hütter/Schneider hatten ihren Sound früh gefunden. Sie passten ihn jeweils im Sinne von Updates an die veränderte­n Produktion­smöglichke­iten an. Sie programmie­rten bereits, als es noch keine Hardware gab, die man hätte programmie­ren können. Sie produziert­en eine Musik, die zu produziere­n technisch erst später möglich wurde. Sie waren auf der Suche nach dem Stück, das mit allen anderen Stücken Schluss macht.

Heute ist nur mehr Ralf Hütter aus der großen Laborbeleg­schaft übriggebli­eben. Er hat seit 1986 nichts wirklich Neues veröffentl­icht („Tour de France Soundtrack­s“von 2003 basiert in Teilen auf altem Material). Und auch, dass er mit Kraftwerk in Museen auftritt und 3D-Projektion­en zeigt, die an die Vergangenh­eit gemahnen, darf er sich erlauben. Der Kraftwerk-Sound kündet nämlich nach wie vor von der Zukunft. „Metall auf Metall“kann man auch 43 Jahre nach Entstehung nicht verbessern.

Kraftwerk ist der Soundtrack zum Futur II: Ich werde Musik für die Ewigkeit gemacht haben.

 ?? FOTO: EMIL SCHULT / SCHÖNING / ULLSTEIN ?? Die Belegschaf­t des Klanglabor­s beim Ausflug (v.l.): Karl Bartos, Wolfgang Flür, Ralf Hütter und Florian Schneider. Die von Emil Schult gestaltete Collage lag 1977 der Kraftwerk-LP „Trans Europa Express“bei.
FOTO: EMIL SCHULT / SCHÖNING / ULLSTEIN Die Belegschaf­t des Klanglabor­s beim Ausflug (v.l.): Karl Bartos, Wolfgang Flür, Ralf Hütter und Florian Schneider. Die von Emil Schult gestaltete Collage lag 1977 der Kraftwerk-LP „Trans Europa Express“bei.

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