Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
„Aussteiger illustrieren, welche Probleme gesellschaftlicher Art sich auftun“
Jetzt auch noch Harry und Meghan! Der Aussteiger ist Faszinosum, Popstar und Phänomen unserer Zeit. Aber was meinen wir eigentlich, wenn wir vom Aussteigen reden?
Tipp für alle, die sich ein wenig Aussteiger-Romantik bewahren wollen: den Film „Into The Wild“niemals bis zum Schluss anschauen. Besser eine halbe Stunde vor dem Ende ausschalten, sich am Gesehenen erfreuen. Weite Welt, Amerika, ein Junge, der sich auf den Weg begibt, es anders zu machen. Der auszieht, um ein paar Monate von dem zu leben, was das Land hergibt. Der dann aber – und das ist sein Ende – feststellen muss, dass das Land ihm zu geben nicht viel bereit ist. Im August 1992 starb der Aussteiger Christopher McCandless in einem ausrangierten Bus in der Wildnis Alaskas. Letzte Fotos aus seiner Kamera zeigten ihn stark abgemagert.
Sean Penns Film hat McCandless 2007 weltberühmt gemacht. „Into The Wild“, der bei iTunes als „Aussteiger-Epos“geführt wird, beruht auf dem gleichnamigen Aussteiger-Bestseller von Jon Krakauer, der von einer wahren Aussteiger-Begebenheit erzählt. Es ist die Geschichte eines Anfang-20-Jährigen, der nach dem Uni-Abschluss nur wenige Sachen packte, aufbrach, sich zwei Jahre treiben ließ und schließlich nach Alaska durchschlug. Wen er traf, dem stellte sich McCandless als Alexander Supertramp vor; und seitdem Supertramp ein Superstar ist, gibt es immer wieder Meldungen über Bewunderer, denen örtliche Behörden und das Militär in Alaska zur Hilfe eilen müssen. Vergangenes Jahr verunglückte eine Spanierin tödlich bei dem Versuch, Supertramps Bus zu erreichen.
Heute ist McCandless alias Supertramp eine Heldenfigur, der Wiedergänger des Gottvaters der Aussteiger, Henry David Thoreau. Der lebte Mitte des 19. Jahrhunderts für zwei Jahre am Ufer des Walden Pond, einem See im Nordosten der USA, und versuchte, „genau dort zu stehen, wo zwei Ewigkeiten, die Vergangenheit und die Zukunft, einander berühren“. Seine Erlebnisse von diesem Rückzug aus der Zivilisation schrieb er im 1854 veröffentlichten Band „Walden“nieder, den es bis heute in jeder Bahnhofsbuchhandlung gibt. Gleich daneben steht ein nach dem Klassiker benanntes Outdoor-Magazin. An Nachfrage nach Erbaulichem aus dem Aussteiger-Milieu mangelt es offensichtlich nicht.
Der Aussteiger ist ein Phänomen, Faszinosum, Popstar. Einer, der den Mut hat, mit der Gesellschaft und ihren Zwängen zu brechen, erfährt Anerkennung von jenen, die im Kopf und in der Bauchgegend eine gewisse Unzufriedenheit verspüren.
„Die Vorstellung, dass sich jemand traut, alternativ zu leben und die Gesellschaft ein Stück weit hinter sich zu lassen, ist sicher faszinierend“, sagt Alexander Fischer, Philosoph von der Universität in Basel. Zugleich glaubt Fischer, dass da noch mehr ist als die bloße Projektionsfläche. „Aussteiger illustrieren, welche Probleme gesellschaftlicher Art sich auftun, wo es Verhandlungsnotwendigkeiten gibt, welche Brüche, Paradoxien und Sehnsüchte es gibt, und auch, welche Pathologien sich feststellen lassen, wenn wir auf die Gesellschaft blicken.“Vom Aussteiger ausgehend ließe sich deshalb Zeitdiagnostik betreiben. Der Aussteiger liefere die Selbstbeschreibung einer modernen Gesellschaft, so Fischer, „das macht einen gewissen Reiz aus“.
Alexander Fischer Philosoph
Interessant ist zu erfahren, was wir meinen, wenn wir vom Aussteigen reden. Wer zum Beispiel einen Zeitungsartikel über den Aussteiger schreibt und davon Freunden und Kollegen erzählt, gerät bald in ein munteres Assoziations-Flippern. Der eine denkt an geläuterte Neonazis, die aus ihrer Szene aussteigen wollen, der andere an Papst Benedikt, der noch zu Lebzeiten sein Amt aufgab und dadurch mit den Konventionen der katholischen Kirche brach. Ein Dritter erinnert an Hans-Dietrich Genscher, der Knall auf Fall und auf den Tag genau nach 18 Jahren als Außenminister seinen Rücktritt bekanntgab. Ein Vierter hört vom Aussteigen und denkt nur daran, wie schön das jetzt wäre.
Und dann sind da noch Harry und Meghan, deren Wachsfiguren bei Madame Tussauds in London vergangene Woche ein paar Meter von der Königsfamilie weggerückt wurden, nachdem das Prinzenpaar angekündigt hatte, sich nach Nordamerika zurückzuziehen und finanziell unabhängig werden zu wollen, wie es hieß. „Aussteigen auf royale Art“, titelte die Zeitung „Welt“. Wobei man sagen könnte, dass Harry und Meghan aussteigen, um einzusteigen. Raus aus dem Schloss, rein ins Leben – sieht man einmal großzügig über die paar Millionen Pfund hinweg, die ihre bürgerliche Kleinfamilie als Startkapital mitnimmt.
Für Alexander Fischer sind Harry und Meghan indes „nicht zwingend klassische Aussteiger. Sie entziehen sich den Zwängen, die ihnen durch ihr Familiensystem auferlegt wurden“, sagt er, „dabei findet aber keine größere gesellschaftliche Aushandlung statt, geschweige denn wird ein wirklich alternatives Leben etabliert.“
Fest steht, dass der Begriff Aussteiger durch Mehrdeutigkeit geprägt ist. Was man unter Aussteigen versteht, sagt vielleicht auch etwas darüber aus, wie man selbst die Welt wahrnimmt.
Philosoph Alexander Fischer versteht unter Aussteigern Menschen, die eine alternative Lebensweise in die Tat umzusetzen. „Aussteiger sind meist Entfremdete, die aus dieser Entfremdung heraus anfangen, sich abweichend zu verhalten“, sagt er. „Das geht in einen Akt der sich abgrenzenden Selbstverwirklichung über und gipfelt in dem Versuch der Herauslösung aus gesellschaftlichen Bindungen.“Häufig wird das Aussteigen dabei durch eine räumlichen Bewegung beschrieben. Raus auf die Straße, in den Wald, in die Wildnis. Die unberührte Natur als Verwirklichungsraums des Aussteigenden
„Der Mensch, der sich frei und unabhängig Beeren pflückte, wenn er hungrig war, ist Farmer geworden, und der einst unter einem Baum Schutz suchte, Hausbesitzer“, schreibt Thoreau, der es eine Zeit lang lieber mit Beeren und Bäumen hielt. „Sich krank machen, nur um für den Fall einer Krankheit etwas zurückzulegen“– das war nicht seins. „Ich halte Karrieren für eine Erfindung des 20. Jahrhunderts“, sagt Emile Hirsch als Alexander Supertramp im Film. Und: „Geld macht vorsichtig.“Man sieht ihm dabei zu, wie er seine Ersparnisse an die Hilfsorganisation
Oxfam schickt, die Kreditkarte zerschneidet und die restlichen paar
Dollar verbrennt.
Aussteiger hätten den Eindruck, dass etwas falsch läuft und dass sie etwas ändern müssen. „In unserer Gesellschaft bezieht sich dieser Eindruck meist auf das kapitalistische Wirtschaftssystem, auf die Zwänge von Wachstum und Leistung“, sagt Philosoph Fischer. „Wonach der Aussteiger sucht, das ist – durchaus mit moralischem Impetus – das gute Leben.“
Wer aussteigt, wird selbst aktiv, das unterscheidet den Aussteiger vom Außenseiter. Im allgemeinen Sprachgebrauch wird der Aussteiger auch lieber mit jenem Aufsteiger in Verbindung gebracht, der sich an einem Punkt in seinem Leben entschließt, neu anzufangen: Die Erzählung vom Ex-Manager, der auf Bali eine Surfschule eröffnet, gibt es in zahlreichen Variationen.
Nur wird er auch dort bald einsehen müssen, dass er sich den Zwängen nicht entziehen kann: Neue Gäste wollen begrüßt und alte verabschiedet werden. Betten müssen gemacht, Toiletten geputzt, Einkäufe
„Der Mensch, der sich frei Beeren pflückte, wenn er hungrig war, ist Farmer geworden“
erledigt, Buchungen angenommen werden. Er kann dafür natürlich ein paar Leute einstellen, aber dann trägt er wieder reichlich Verantwortung und ist ständig in Mitarbeitergesprächen. Dabei wollte er doch eigentlich surfen gehen.
Es stellt sich die Frage, ob nicht zumindest mal die liberale Gesellschaft jedem eine Nische anbietet, in der er sich einrichten kann. Ob man überhaupt rauskommt, ob man nicht immer irgendwo und irgendwie abhängig und verantwortlich ist und damit Teil der Gesellschaft.
Natürlich ist das Aussteigen längst auch ein Marktsegment geworden. „Alltag ist Treibsand, du steigst ab, je stärker du trittst“, singt der in Deutschland extrem populäre Rapper Casper im Song „Auf und davon“ein Hoch auf die Verweigerung. Das Lied hat die Plattenfirma zur Single gemacht. Im Videoclip sieht man Casper durch eine Schneelandschaft stapfen. Into the wild also.
Das ist natürlich reichlich pessimistisch, wogegen Lebensberater wie etwa John Strelecky etwas haben. Strelecky war früher Unternehmensberater, ist jetzt Autor von Lebenshilfe-Weltbestsellern, hat als Aussteiger Karriere gemacht. Für 845 Euro pro Person bietet er im März in Hamburg, München und Freilassing eines seiner zweitägigen „Do-it-Seminare“an. Gegenleistung laut Internetseite: „Du findest deinen Zweck der Existenz.“Darunter macht er es nicht.
Zum Aussteigen braucht es wohl keine Seminare, sondern Willen und Mut, das Wagnis einzugehen. Wer das nicht hat, hat Udo Jürgens. „Ich war noch niemals in New York, ich war noch niemals richtig frei. Einmal verrückt sein und aus allen Zwängen fliehen“, singt der. Und dann bleibt sein Erzähler doch lieber ein Träumer, bei Frau, Kind und bei „Dalli Dalli“. Auch gut so.
Henry David Thoreau Schriftsteller