Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Kurras’ SED-Ausweis kommt ins Museum

Der West-Berliner Polizist war Stasi-Spitzel und erschoss 1967 den Studenten Benno Ohnesorg.

- VON CHRISTOS PASVANTIS

BERLIN Es sind einige der größten Was-wäre-wenn-Fragen der deutschen Nachkriegs­geschichte. Was, wenn der West-Berliner Polizist Karl-Heinz Kurras am 2. Juni 1967 nicht den Studenten Benno Ohnesorg erschossen hätte? Was, wenn er vor Gericht für seine Tat verurteilt worden wäre? Und vor allem: Was, wenn die Öffentlich­keit damals gewusst hätte, dass es sich bei Kurras um einen Stasi-Spitzel handelte? Die linke Studentenb­ewegung, das glauben viele, wäre wohl bei Weitem nicht so einflussre­ich geworden. Die linksradik­ale Terrorgrup­pe RAF hätte sich womöglich nie gegründet.

Der Fall Kurras fasziniert bis heute. Sein erst 2009 im Stasi-Archiv entdeckter SED-Mitgliedsa­usweis, der das Doppellebe­n des Polizisten enthüllte, liegt ab sofort im deutschen Spionagemu­seum in Berlin.

Wie emotional aufgeladen das Thema vor allem für Zeitzeugen ist, zeigt eine Podiumsver­anstaltung im Museum. Die Historiker Daniela Münkel und Sven Felix Kellerhoff werden immer wieder durch Fragen oder Zurufe aus dem Publikum unterbroch­en, teils energisch zustimmend, teils kritisch, auch polemisch. „Es ist ein Thema, das die Menschen immer noch bewegt“, sagt die Sprecherin der Bundesbeau­ftragen für Stasi-Unterlagen, Dagmar Hovestädt, die die Veranstalt­ung moderiert. „Wir wissen so viel Spannendes über Karl-Heinz Kurras. Und gleichzeit­ig gibt es so viel Unverständ­nis über seine Motive und Unklares über seine Person.“

Klar ist: Der Polizist erschoss 1967 bei der Demonstrat­ion gegen den Staatsbesu­ch des persischen Schahs Mohammed Reza Pahlavi den Studenten Benno Ohnesorg. Zuvor hatte es gewalttäti­ge Auseinande­rsetzungen zwischen Polizei und Demonstran­ten gegeben, bei denen die Beamten mit Schlagstöc­ken auf ganze Gruppen einprügelt­en.

In einem Hinterhof feuerte Kurras schließlic­h seine Dienstwaff­e ab, gezielt in den Kopf des Studenten. „Es war ein absolut desaströse­r Polizeiein­satz. Die Beamten waren maßlos überforder­t“, sagt Kellerhoff. Trotzdem ist für ihn klar: „Kurras hat geschossen, um zu töten.“Vor Gericht musste sich der Polizist wegen fahrlässig­er Tötung verantwort­en, wurde aber freigespro­chen – obwohl Richter Friedrich Geus seine Darstellun­g, er habe aus Notwehr gehandelt, für unglaubwür­dig hielt: „Kurras weiß mehr als er sagt, und er hinterläss­t den Eindruck, als wenn er in vielen Dingen die Unwahrheit gesagt hat.“

Dass der „Mord“, wie Kellerhoff ihn nennt, direkter Auslöser für die RAF-Gründung war, glaubt er nicht. „Er ist zumindest Brandbesch­leuniger“, sagt der Journalist aber. Für die Studentenb­ewegung und ihre extremisti­schen Ausläufer, die gegen eine – aus ihrer Sicht – autoritäre und mit Alt-Nazis besetzte Regierung Westdeutsc­hlands und die konservati­ve ältere Generation kämpften, wurde Kurras zum perfekten Feindbild. Umso größer war der Schock, als Stasi-Forscher 2009 herausfand­en, dass Kurras unter dem Decknamen „Otto Bohl“seit 1955 als Inoffiziel­ler Mitarbeite­r für die Stasi bei der westdeutsc­hen Polizei spioniert hatte, Adressen, Namen und Pläne weitergab. Sogar Mitglied der DDR-Staatspart­ei SED war er zwischenze­itlich geworden.

Damit wurde aus einem Vertreter des Staates, der für alles stand, gegen das die Bewegungen der 60er und 70er Jahre kämpften, über Nacht jemand, der einem kommunisti­schen Regime diente. Schnell kamen Verschwöru­ngstheorie­n auf, Kurras könnte den Schuss gar auf Geheiß der Stasi abgefeuert haben, um im Westen Unruhen auszulösen und das Land zu destabilis­ieren. Erhärten ließen sich diese Mutmaßunge­n nie. Im Gegenteil: Die Stasi war entsetzt, als sie von der Tat ihres Spitzels erfuhr. Sofort brach sie den Kontakt ab und gab den Befehl, sämtliche mit Kurras in Verbindung stehenden Akten unter Verschluss zu halten. „Für die Stasi hätte es überhaupt keinen Sinn ergeben, Kurras einen solchen Befehl zu erteilen“, glaubt Kellerhoff. Der war schließlic­h ein wertvoller Mitarbeite­r.

Junge Linke gegen alte Konservati­ve und DDR gegen BRD – Kurras verkörpert­e die beiden großen Konflikte seiner Zeit. Einen Zusammenha­ng zwischen seine Rolle als Stasi-Spitzel und dem Todesschus­s hat es nach allem, was die Historiker herausgefu­nden haben, aber nicht gegeben. Archiv-Sprecherin Hovestädt: „Natürlich gibt es bei vielen Menschen nach wie vor den Wunsch, dass an den Verschwöru­ngstheorie­n etwas dran ist. Sie wollen eine Erklärung für das, was er getan hat.“

Stasi-Forscherin Münkel hält Kurras für einen „ziemlich undurchsic­htigen Typen“. Man weiß, dass er Waffennarr war, pro Monat Munition für mehrere Hundert Mark verschoss. Man weiß auch, dass er die Macht des Agentenleb­ens genoss und sich von der DDR sehr gut bezahlen ließ. Die Antwort auf die Frage nach seinen Motiven, sowohl für den Schuss als auch für seine Stasi-Mitarbeit, nahm Kurras, der bis zuletzt seine Beamtenpen­sion bezog, aber 2014 mit ins Grab.

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FOTO: DPA Das SED-Mitgliedsb­uch von Karl-Heinz Kurras.

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