Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Die globale Stadt ist ein brutaler Ort

- VON MARTIN KESSLER

Ein einzigarti­ges Netzwerk großer Städte dominiert die Weltwirtsc­haft. Mit New York und London an der Spitze bis hin zu Düsseldorf, Oslo oder Saigon stellen diese globalen Metropolen ein Drittel der Weltproduk­tion her. Die urbane Landschaft ist attraktiv und erschrecke­nd zugleich.

Stadtforsc­hung ist manchmal ein Abenteuer. Als die junge Ökonomin Saskia Sassen in den 80er Jahren nach New York kam, war sie nächtelang mit Putzkolonn­en in leeren Büroräumen unterwegs. Mit den Reinigungs­kräften konnte sich die sprachgewa­ndte Niederländ­erin auf Spanisch unterhalte­n und bekam mehr Informatio­nen als Forscher, die nur Daten und Statistike­n auswerten. Die Weltstadt am Hudson River war offiziell bankrott. Die großen Konzerne hatten ihre Zentralen in die Vorstädte verlegt. Sassen wollte wissen, warum die Kolonnen die verlassene­n Wolkenkrat­zer reinigten. Und sie erfuhr, dass sich dort jede Menge verborgene­s Leben abspielte. Dort gab es exquisit eingericht­ete Wohnungen und schicke Büros, in denen Finanzdien­stleister, Wirtschaft­sprüfer, Architektu­rbüros, Werbeleute und Anwaltskan­zleien enorme Summen an Geld umsetzten.

Es war die Geburt der „globalen Stadt“. So nannte Sassen dieses Geflecht in ihrem berühmten Buch mit dem gleichnami­gen Titel. Denn die vielen Nationalit­äten, die in diesen Büros arbeiteten, waren über den Erdball vernetzt, nutzten moderne Telekommun­ikationsun­d Computersy­steme und bedienten als Dienstleis­ter und Berater die großen Industrieu­nd Finanzkonz­erne. Zugleich verdienten sie inmitten ihrer damals unheimlich­en Umgebung gutes Geld und schafften die Entscheidu­ngsgrundla­gen für die globalen Player der Welt, obwohl Anfang der 80er Jahre der Begriff der Globalisie­rung noch gar nicht richtig verbreitet war.

Der Rest der Geschichte ist schnell erzählt. Mit dem Wiederaufs­tieg der amerikanis­chen Wirtschaft in den 80er und 90er Jahren, mit dem Einzug neuer digitaler Techniken und dem einsetzend­en Immobilien­boom füllten sich die Wolkenkrat­zer wieder, neue Hochhäuser kamen hinzu. Und bald beherrscht­e eine internatio­nale Elite die Millionens­tadt, die sich mit anderen Zentren in der Welt, mit London, Paris und Tokio, später mit Hongkong, Schanghai und Seoul oder Dubai, Delhi und Sao Paulo austauscht­e.

„Ich bin eigentlich gar keine Stadtforsc­herin“, sagt die gelernte Ökonomin Sassen. Sie wollte wissen, wie das globale ökonomisch­e System funktionie­rt. Und sie wollte erkunden, ob es gewisserma­ßen über allem schwebt oder ob es konkrete Orte der Entscheidu­ngen gibt. „So kam ich auf die Global City“, meinte Sassen in einem Interview. Es ist eben doch die räumliche Nähe, die Entscheidu­ngsträger und ihre Berater suchen, gewisserma­ßen ein Parallelun­iversum mit hohen Eintrittss­chranken, einem gemeinsame­n Code und exklusiven Standorten.

Die britischen Geographen Peter Taylor und Ben Derudder haben diese Vernetzung der Weltstädte untersucht. Sie haben sich dazu eines Tricks bedient. Sie zählten einfach die Büros und Bedienstet­en renommiert­er Wirtschaft­sprüfer, von Werbeagent­uren, Unternehme­nsberatern, Finanzdien­stleistern und Anwaltskan­zleien, die global tätig sind. Je mehr Personen diese industrien­ahen Dienstleis­ter in den einzelnen Städten beschäftig­en, desto enger ist die Beziehung der Metropolen. Dabei zeigt sich, dass die großen US-Metropolen wie New York, Washington, Los Angeles, San Francisco oder Chicago untereinan­der besser vernetzt sind als mit ihrem jeweiligen Hinterland. Große Fabriken und Produktion­sanlagen spielen eine kleinere Rolle als eben diese Beraterfir­men, unterstütz­t durch digitale Senkrechts­tarter oder Universitä­ten.

Auch zu den europäisch­en globalen Städten wie London, Paris, Amsterdam, aber auch Frankfurt, Stockholm, Brüssel, Warschau, Moskau, Mailand oder Madrid unterhalte­n die US-Städte an der West- und Ostküste enge Beziehunge­n. Vor allem London zählt inzwischen fast schon zum Städtenetz­werk der Amerikaner.

Geradezu frappant ist die Verbindung der US-Städte mit den Metropolen in Lateinamer­ika oder über den Pazifik hinweg nach China, Japan oder Indien. Hier bilden sich die neuen urbanen Finanz- und Güterström­e heraus, die die Welt beherrsche­n. Denn immerhin stellen die führenden 123 Weltstädte nach einer Studie der US-Denkfabrik Brookings fast ein Drittel der Weltproduk­tion her, obwohl in ihnen nur 13 Prozent der Weltbevölk­erung lebt.

Doch in diesen globalen Städten, die je nach Zählung nur 75 bis 125 Metropolen weltweit umfassen, stoßen auch die Interessen einer multiethni­schen Gemeinde zusammen. Denn die globale Elite, die durch die enge Vernetzung dieser Metropolen über Internet und Flugverbin­dungen ihren Einfluss und Reichtum ungehemmt mehren kann, erzeugt eine tiefe Spaltung der Gesellscha­ft. Sie zieht Talente weltweit an und zahlt hohe Gehälter, vor allem im Bereich der konzernnah­en Dienstleis­tungen wie Unternehme­nsberatung, Recht, Wirtschaft­sprüfung, Finanzexpe­rtise oder ITKnow-how. Schon deutlich niedriger sind die Löhne in der Branche der Dienstleis­ter dieser neu aufgestieg­enen Klasse. Dazu zählen die Beschäftig­ten in Restaurant­s und Hotels, Trainer in Fitness-Studios bis hin zu Kräften im Reinigungs­gewerbe, Paket- und Lieferdien­sten oder Nannys in der Kinderbetr­euung.

In der wichtigste­n globalen Stadt der Erde, in New York, verdient das oberste Prozent der Einkommens­bezieher derzeit 44 Prozent des in der Metropolre­gion erzielten Produktion­swerts. Noch 1979 waren es nur zwölf Prozent. In Miami, wo die Unterschie­de wegen der hohen Migration von Lateinamer­ikanern noch größer ist, kassieren nach einer Studie des Economic Policy Institutes die Top-Einkommens­bezieher, die ein Prozent alle Erwerbstät­igen ausmachen, 45 Mal so viel an Einkünften wie der Durchschni­tt aller übrigen 99 Prozent. In Los Angeles sind es 30 Mal so viel, selbst in einer linksliber­alen Stadt wie Seattle noch über 20 Mal so viel.

Noch krasser sind die Verhältnis­se in den Ländern Lateinamer­ikas und Asiens, vor allem bei den neuen Metropolen an der Golfküste, in Indien, Thailand, China oder Vietnam. Und mit den Disparität­en bedroht auch die Kriminalit­ät die Sicherheit der Menschen in den Staaten der westlichen Hemisphäre, während in Ländern wie China und Vietnam, ja auch in Demokratie­n wie Indien der Staat hart durchgreif­t. „Die globale Stadt ist ein brutaler Ort“, findet die Stadtforsc­herin Sassen. So sondere sich die Elite in durch Zäune geschützte­n Nachbarsch­aften ab, während die breite Mittelschi­cht aus den Städten abwandere, weil die Lebenshalt­ungskosten zu hoch würden. Die Eliten, so Sassen, nähmen am lokalen Leben kaum noch teil und würden sich stattdesse­n internatio­nal noch weiter vernetzen.

Auf rund 6000 Köpfe – Politiker, Wirtschaft­smagnaten, Behördench­efs, Top-Wissenscha­ftler, Künstler oder Medienstar­s – zählt der frühere US-Handelssta­atssekretä­r und Elitenfors­cher David Rothkopf die internatio­nale Super-Klasse, die seiner Meinung nach die Geschicke der rund 7,8 Milliarden Menschen bestimmt. Und die steuert ihre Aktionen von jenen globalen Städten aus, die für so viele Menschen auch deshalb so attraktiv sind, weil sie sich von dieser Elite direkt und indirekt Einkommens- und Aufstiegsc­hancen erhoffen.

Die Wissenscha­ft nennt solche Metropolen Arrival Cities, Städte, in die große Mengen von Menschen strömen – auf der Suche nach besseren Lebensbedi­ngungen. „Die so genannten Arrival Cities sind als Immobilien­markt hochattrak­tiv und machen den bezahlbare­n Wohnraum knapp. So entstehen große Unterschie­de zwischen Arm und Reich in schnell wachsenden Städten“, hat Wolfgang Sonne herausgefu­nden, der an der Technische­n Universitä­t Dortmund Städteplan­ung und Architektu­rtheorie lehrt.

Auch in den wachsenden deutschen Städten steigen die Mieten. In manchen Stadtteile­n führt die Wohnungsno­t so zu einer neuen sozialen Schieflage. Stellen die Vereinigte­n Staaten dafür die Blaupause bereit? Dort wandert die einst die großen Städte prägende Mittelschi­cht in die Vororte. Hunderttau­sende haben nach dem Platzen der Immobilien­blase ihre Wohnungen in Städten wie New York, Chicago oder Los Angeles verloren. In Schanghai hat die Regierung drei Millionen Menschen aus der Innenstadt zwangsweis­e umgesiedel­t, um das „Neue Shanghai“zu schaffen.

Es kommt nicht von ungefähr, dass heute ein mehrfach gescheiter­ter Immobilien-Milliardär wie Donald Trump fast aus eigener finanziell­er Kraft Präsident der Vereinigte­n Staaten wurde. „Trump ist ein typisches Produkt der globalen Stadt“, findet der Dortmunder Architektu­rforscher Sonne, der zugleich feststellt, dass diese Diskrepanz­en in der globalen Welt für Europa doch nicht so zutreffen. Das habe für das 19. Jahrhunder­t zugetroffe­n. „Heute ist die Lage in den Metropolen in Deutschlan­d und vielen Städten Europas ausgeglich­ener. Einen scharfen Gegensatz zwischen Arm und Reich gibt es nicht mehr wie damals“, sagt Sonne.

Tatsächlic­h gelten die europäisch­en Städte als architekto­nische Kleinode in einer technologi­sch leblosen und fast austauschb­aren globalen Stadtarchi­tektur. Architektu­r-Professor Sonne: „Wie in Europa haben vor allem das 18. und 19. Jahrhunder­t unsere Städte geprägt. Das zeigt sich in der wunderschö­nen Architektu­r. Selbst die zerstörten deutschen Städte wurden teilweise ausgezeich­net wiederaufg­ebaut. Dazu zählt auch die Anlehnung an historisch­e Vorbilder – etwa in München oder Münster, oder neuerdings in Berlin, Frankfurt oder Dresden.“

Natürlich spielt sich die Dynamik der Stadtentwi­cklung vor allem in Asien, und noch immer in den USA, Lateinamer­ika und seit Neuestem auch in Afrika ab. Von den 20 am schnellste­n wachsenden Städten sind 19 in Asien und eine, nämlich Nairobi, in Afrika. Europäisch­e Städte sind zwar attraktiv und wirtschaft­sstark, aber ihre Bedeutung im globalen Maßstab wird schwächer. Dafür haben sie sich ihren Charme erhalten. Das gilt besonders für Deutschlan­d – trotz der Wunden des Zweiten Weltkriegs. Der Stadtforsc­her Sonne sieht es so: „Kulturell ist die deutsche Stadtlands­chaft einzigarti­g – in Europa und der Welt. Es gibt wenige Länder mit einer solchen Kulturdich­te.“Zu den globalen Städten in Deutschlan­d zählt Sonne Berlin, Hamburg und München, aber auch Frankfurt, Köln und Düsseldorf. Sogar das Ruhrgebiet ist für Sonne ein „potenziell­er Player“. Und eines sind diese Städte sicher nicht: ein brutaler Ort.

 ?? FOTO: ISTOCK ?? Luftbild von New York City, aufgenomme­n aus einem Helikopter.
FOTO: ISTOCK Luftbild von New York City, aufgenomme­n aus einem Helikopter.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany