Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Letzte Zeugen der Verfichtung
Vor 75 Jahren befreite die Rote Armee das Vernichtuger Auschwitz, in dem die Deutschen mehr als eine Million Menschen ermordeten. Drei Überlebende de Westfalen, dem Grauen im KZ – und warum sie he ocaust erzählen von der Vertreibung aus Nordrheinrotzdem n
EDITH BADER-DEVRIES (84)
Edith Bader-Devries war sechs Jahre alt, als ihre Kindheit endete. Es war der Tag, an dem sie mit ihren Eltern in einen Zug gestiegen ist. „Meine Mutter und mein Vater haben mir das mit Freuden erzählt, dass ich Zug fahren würde.“Aufgeregt packte sie drei Puppen in einen Rucksack. Ihr restliches Spielzeug verschenkte sie. Im Zug fiel der Rucksack aus dem Gepäcknetz. Dabei zerbrachen die kleinen Porzellan-Köpfchen, zerbrach etwas in Edith Bader-Devries. Es war der Tag, an dem sie nach Theresienstadt deportiert wurde.
Edith Bader-Devries ist heute 84 Jahre alt, seit acht Jahren wohnt sie im Nelly-Sachs-Haus in Düsseldorf. Geboren ist sie in Weeze am Niederrhein. „Weeze liebe ich, weil die Menschen uns auch in der Hitlerzeit noch gern hatten“, sagt sie. Neben ihren Puppen gehörten die Geschichten ihres Vaters, Max Devries, zu ihren schönsten Erinnerungen. Er war ein stolzer, patriotischer Mann, erzählte oft davon, wie er im Ersten Weltkrieg für die preußische Armee kämpfte. Und wenn Nazis durch Weeze zogen, trat er ihnen mutig gegenüber. „Mein Vater sagte immer: Wir sind durchs Rote Meer gekommen, dann kommen wir auch durch diese braune Scheiße.“
In Düsseldorf mussten die Devries’ umsteigen. Gemeinsam mit Hunderten anderen Juden wurden sie im Schlachthof der Stadt untergebracht. „Ich erinnere mich noch daran, dass es sehr dunkel war.“Dann kam der Viehwaggon – und die Angst. „Wir sind eingepfercht worden in einen Güterzug.“Die Menschen hätten nach Luft gerungen, erleichtert wurde sich an Ort und Stelle. Und mittendrin war Edith Bader-Devries, verängstigt, ohne ihre Puppen.
Das Erste, was sie in Theresienstadt sah, waren die Ghetto-Wachen. Mit Peitschen trieben sie die Leute ins Lager. Bader-Devries und ihre Mutter wurden vom Vater getrennt und mit 38 anderen Menschen in einem kleinen Zimmer untergebracht. Ihre Mutter hatte die Nazis angebettelt, ihr Kind dorthin mitnehmen zu dürfen.
Im Lager wurde der Tod zum Alltag. Vor allem die alten Menschen seien in Theresienstadt schnell gestorben, sagt sie. „Wenn die SS mit der Peitsche kam, sind die alten Leute hingefallen und waren tot. Man war ja so ausgehungert.“Im Zimmer hätten alle dicht nebeneinander gelegen, die Toten in der Mitte, Betten gab es keine. Jede Nacht seien Menschen neben ihr gestorben. „Sie wurden auf einem Leichenwagen weggetragen, auf dem auch das Brot ausgeteilt wurde.“An den Tod, sagt Bader-Devries, habe sie sich irgendwann gewöhnt.
Besonders schlimm waren die nächtlichen Aufrufe der SS. Jede Nacht um 1 Uhr seien diejenigen gerufen worden, „die wegmussten“– in Vernichtungslager wie Auschwitz. Noch heute wird Bader-Devries jede Nacht um diese Uhrzeit wach. „Die Pfleger kommen dann immer und bringen mir Tropfen zum Weiterschlafen.“
Lange hat sie nicht über ihre Erlebnisse in Theresienstadt sprechen können. Ihr schlimmstes Erlebnis konnte sie selbst ihrer Mutter nie anvertrauen. „Ich wurde missbraucht.“Es war ein SS-Mann, der ihr Schwarzbrot und Milch anbot. Vor Hunger ging Edith Bader-Devries darauf ein, der Mann lockte sie in ein Wäldchen. Als sie bemerkte, was er tat, sprang sie auf. „Ich habe die Milch verschüttet und das Brot fallen lassen und bin weggerannt.“Sie habe den SSMann noch rufen hören: „Wenn du was sagst, dann bist du bald tot!‘“.
Heute so offen über alles zu sprechen, sieht Bader-Devries als ihre Aufgabe. „Mein Vater hat immer gesagt: ,Kind, so etwas geschieht nie wieder‘. Und das habe ich auch gedacht“, sagt sie. Gerne hätte sie die Gelegenheit, vor jungen Neonazis zu sprechen. „Weil sie eigentlich – wie sagt man – sie wissen nicht was sie tun“, sagt sie. „Ich will ihnen sagen: ,Ich liebe alle‘. Ich glaube, sie sähen die Welt dann anders.“
Heute weiß die 84-Jährige, dass alles zusammenhängt. Die zweieinhalb Jahre im KZ haben ihr Leben geprägt. Nur deshalb, so glaubt sie heute, sei sie Kindergärtnerin geworden. „Ich habe ja nicht spielen können.“Den Kindern legte und legt sie ans Herz, wie wichtig Respekt und Nächstenliebe sind.
Die Freude an Puppen hat Edith Bader-Devries bis heute behalten. In ihrem Zimmer in Düsseldorf bewahrt sie zwei auf – ein Geschenk ihres Enkels. Sie nimmt sie stolz in den Arm. „Die liebe ich“, sagt sie und lächelt. Die Situation erinnert an ihre Erzählungen von der Zugfahrt nach Theresienstadt. An den Tag, an dem ihre Puppen zerbrachen. Und ihre Kindheit.