Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Keine Angst vor Erdogan-Schulen
Die Reaktionen auf Ankaras Pläne, drei türkische Schulen in Deutschland zu errichten, sind maßlos übertrieben. Deutschland braucht sich keine Sorgen zu machen, wenn es sich an die eigenen Maßgaben hält.
Es ist immer wieder bemerkenswert, mit welcher Regelmäßigkeit vermeintlich deutsche Tugenden ihre Gültigkeit verlieren, wenn der Name Erdogan fällt. Die Kategorien sachlich, nüchtern, rational werden beiseitegelegt und ersetzt durch aufgeregt, alarmiert und hysterisch. Das hat seine Gründe: Recep Tayyip Erdogan, Präsident der Türkei, ist eine menschgewordene Provokation für alles Rechtsstaatliche und Demokratische, was sich westlich des Euphrat entwickelt hat. Dass eine Reaktion nachvollziehbar ist, macht sie aber noch nicht angebracht. Das zeigt sich deutlich an der Debatte um türkische Schulen in Deutschland.
Worum es geht: Die
Türkei möchte drei türkische Schulen in Deutschland aufbauen. Das ist erst einmal kein außergewöhnlicher Wunsch. Deutschland unterhält drei Schulen in der Türkei, in Deutschland unterhält Griechenland neun Schulen – allein in NRW. Doch – und das kann man wertfrei feststellen – die Türkei ist nicht Griechenland. Sie ist weniger demokratisch, weniger europäisch, weniger christlich. Insbesondere unter ihrer aktuellen Regierung ist die Türkei ein Land, bei dem man zurecht besonders penibel auf die Einhaltung von Regeln achten muss. Dass die Regierung gewillt ist, eigene Konflikte auch in Deutschland auszufechten, hat sie gezeigt, als sie Imame der Ditib-Moscheen und Konsulatsbeamte für sich spionieren und Berichte über in Deutschland lebende mutmaßliche Anhänger der Gülen-Bewegung anfertigen ließ.
Der Erregungspegel ist am Anschlag: Warnungen vor Erdogans „Propaganda-Schulen“, vor „Gift für die Integration und Demokratie“und vor der Naivität all jener, die in dieses Weltuntergangs-Szenario nicht einstimmen. Meine Güte, möchte man rufen, können wir uns mal kurz beruhigen? Nicht, weil es nichts zu befürchten gäbe, sondern weil aus reflexartiger Hysterie selten langfristig kluge Politik entstanden ist. Ja, die Sorge vor türkischen Institutionen als verlängertem Arm Erdogans ist nicht nur berechtigt, sondern absolut angebracht. Doch Sorge kann nicht die Antwort auf eine politischer Frage sein. Sorge kann am Anfang stehen, sie kann die Abwägung von Argumenten und möglichen Szenarien begleiten, doch in ihr darf man nicht verharren.
Was also tun? Die Antwort ist so simpel wie anstrengend: Das Ersuchen auf Herz und Nieren prüfen, die Einhaltung der gesetzlichen Regeln pedantisch verfolgen und dabei ehrlich und transparent sein. Und vor allem: nicht mit zweierlei Maß messen. Für die türkischen Schulen bedeutet das, dass man die vorhandenen rechtlichen Maßgaben (siehe Infobox) konsequent anwendet – genau so, wie man sie auch auf griechische, russische und japanische Schulen angewandt hat. Warum also die Aufregung? Haben wir so wenig Vertrauen in die eigenen Kompetenzen? Wieso grassiert ein derartiges Ohnmachtsgefühl bei der Vorstellung türkischer Schulen? Wer in derartigen Alarmismus verfällt, traut dem deutschen Staat nichts und dem türkischen Staat alles zu. Man geht wie selbstverständlich davon aus, dass Deutschland nichts gegen Erdogan ausrichten kann.
Wer das denkt, sieht in den in Deutschland lebenden Türken und Türkeistämmigen eine willenlose Masse, die sich in jede beliebige Richtung steuern lässt. Oder aber man unterstellt den Menschen, dass sie ohnehin Erdogan-Sympathisanten sind und sich gerne in seinen Dienst stellen. Die erste Annahme ist anmaßend, die zweite zwar weit verbreitet unter allerlei Experten, entbehrt aber einer seriösen Basis. Zwar wird das Wahlverhalten der hier lebenden Türken gern genutzt, um der türkischen Community eine mangelnde Identifizierung mit „deutschen Werten“zuzuschreiben, doch dies ist ein Fehlschluss. Wenn von fast drei Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln 1,4 Millionen
Wahlberechtigte türkische Staatsbürger sind, von denen lediglich die Hälfte an einer Wahl teilnimmt und mit 65 Prozent für Erdogan votiert (türkische Präsidentschaftswahlen 2018), dann ist das der Ausschnitt eines Ausschnitts eines Ausschnitts – oder anders gesagt: aus dem Wahlverhalten von 455.000 Menschen verallgemeinernde Thesen für drei Millionen Deutsch-Türken zu ziehen, ist unseriös und unanständig.
Auch fällt zu oft unter den Tisch, wer eigentlich unter der autoritären Herrschaft Erdogans leidet. Die Bespitzelung durch Ditib-Imame mag der gemeine Deutsche als einen politischen Skandal kritisieren, unter dem existenziellen Vertrauensbruch litten aber Deutsch-Türken. Vielleicht sollten deutsche Politiker diese Menschen ernst nehmen und sie nach ihrer Meinung fragen, statt sie als Objekt integrationspolitischer – oder besser: integrationskritischer – Debatten zu sehen.
Und deswegen ist es auch völlig unangebracht, jetzt den integrationspolitischen Weltuntergang heraufbeschwören noch bevor Rahmenbedingungen feststehen. Vor allem sollten wir die Verhältnisse nicht richtig einschätzen. Wenn insgesamt 1500 Kinder und Jugendliche diese neuen Schulen besuchen, dann ist das nicht unbedingt eine Größe, aus der eine für die Integration gefährliche Parallelgesellschaft entsteht. Wer sich ehrlich um die Integration junger Menschen sorgt, sollte sich für eine bessere Durchmischung von Stadtteilschulen einsetzen. Denn in den urbanen Armutsregionen sind Parallelgesellschaften bereits real – nur kann man sich darüber nicht so öffentlichkeitswirksam empören. Nachher müsste man sich noch fragen lassen, warum man denn nichts dagegen unternimmt.
Es ging in den vergangenen Jahren immer wieder um die Mitte der Gesellschaft. Vielleicht sollten wir uns auch mehr um die Mitte unserer Debatten kümmern. Wenn man sich dieses Ausmaß an rhetorischer Ausrüstung anschaut, dann kommt man nicht umhin, sich zu fragen: Wie wollen diese Menschen eigentlich reagieren, wenn tatsächlich eine elementare Gefahr droht?
Es ist völlig unangebracht, den integrationspolitischen Weltuntergang heraufzubeschwören