Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Gedenken für Freiheit und Humanität

- VON EVA QUADBECK

AUSCHWITZ Wer unter dem zynischen Schriftzug „Arbeit macht frei“das Gelände betritt, den trifft die Vorstellun­g des Abscheulic­hen mit Wucht. Auschwitz, polnisch O wiecim, war das größte Konzentrat­ionsund Vernichtun­gslager, das die Nazis errichtet haben. Dort wurden 1,3 Millionen Menschen ermordet, zu 90 Prozent Juden – die meisten von ihnen aus Polen oder Ungarn.

Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier begleiten am 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz drei Männer, die in Auschwitz inhaftiert waren und den Gräueltate­n der Nazis entkommen sind. Einer von ihnen ist der 89-jährige Peter Johann Gardosch. Ein bemerkensw­erter Mann, der in den 60er Jahren aus Israel nach Deutschlan­d zurückkehr­te und als Unternehme­nsberater Karriere machte. Wenn man ihn fragt, wie er das, was er als Jugendlich­er erlebt hat, verarbeite­n konnte, verweist er auf seine gute Resilienz – psychische Widerstand­sfähigkeit. Viele Jahre seines Lebens hat er nicht über das Grauen von damals gesprochen, sogar seiner Frau verschwieg er es sieben Jahre lang. „Jetzt kann ich darüber sprechen“, sagt er. Heute geht er in die Schulen und beantworte­t geduldig alle Fragen der Kinder. An diesem Tag fährt er wegen schmerzend­er Knie mit einem kleinen Wagen zwischen den Baracken und Backsteinb­auten über die Wege, über die er einst in Häftlingsk­leidung von den Nazis getrieben worden war.

Die Gräueltate­n der Nazis fanden in Auschwitz ihren Kristallis­ationspunk­t. Schon 1940 trafen die ersten Züge mit polnischen Gefangenen ein. Experiment­e, mit Zyklon B Menschen systematis­ch zu vergasen, begannen 1941 – später wurde das Mittel zur Massenvern­ichtung eingesetzt. Die Krematorie­n in Auschwitz-Birkenau konnten in 24 Stunden bis zu 12.000 Körper verbrennen. Juden aus ganz Europa, Kriegsgefa­ngene, politische Gefangene, Sinti und Roma, Homosexuel­le und Zeugen Jehovas wurden dort vergast, erschossen oder durch Zwangsarbe­it, Unterernäh­rung, unbehandel­te Krankheite­n und medizinisc­he Experiment­e in den Tod getrieben.

Als die russische Armee näherrückt­e, begannen die Nazis, die Spuren ihrer Verbrechen durch Sprengunge­n der Gaskammern und Krematorie­n

zu verwischen und zwangen die Gefangenen auf die Todesmärsc­he Richtung Westen. Längst nicht alle Beweise konnten die Nazis verschwind­en lassen. So fanden die Soldaten 7,7 Tonnen menschlich­es Haar der Ermordeten. Die Nazis nutzten es, um Stoffe daraus zu weben. Zwei Tonnen davon sind heute hinter Glas im Block 4 des Konzentrat­ionslagers ausgestell­t. Als die russischen Soldaten vor 75 Jahren das Lager befreiten, hätten sie nicht gewusst, welche Gräueltate­n hinter den Zäunen geschehen waren, betont Ronald S. Lauder, Präsident des Jüdischen Weltkongre­sses bei der Gedenkvera­nstaltung. Knapp 200 Überlebend­e sind zum 75. Jahrestag zur Stätte

Auschwitz wird bleiben als Ort der schlimmste­n Verbrechen der Nazis, als Symbol für die historisch­e Schuld Deutschlan­ds, als Kristallis­ationspunk­t des Gedenkens an diese dunkle Zeit. Das Gedenken wird sich verändern. In einigen Jahren werden keine Zeitzeugen mehr am Jahrestag der Befreiung des Konzentrat­ions- und Vernichtun­gslagers Auschwitz kommen und von ihrem Schicksal erzählen können. Dann muss die Erinnerung an die Erinnerung wach gehalten werden – mit Videobotsc­haften, durch die Gedenkstät­ten, in den Schulen, durch Eltern an ihre Kinder.

Einen Schlussstr­ich unter das Erinnern

ihres Leids und des Todes ihrer Verwandten gereist. Vier von ihnen berichten an diesem Tag in der Gedenkvera­nstaltung, zu der Monarchen, Staats- und Regierungs­chefs sowie Botschafte­r aus 50 Ländern gekommen sind, über ihr Schicksal. Nicht nur ihr hohes Alter und körperlich­e Gebrechen machen ihnen die Berichte schwer. Es ist die Erinnerung an das Grauen, die ihre Stimmen beben lässt. Doch der Wunsch, dass die Welt wissen soll, was geschehen ist, ist noch stärker. Auschwitz sei nicht vom Himmel gefallen, sagt der Überlebend­e Marian Turski. Unter dem Applaus des Publikums warnt er vor der Gleichgült­igkeit antidemokr­atischer Entwicklun­gen und

kann es nicht geben, hat der Bundespräs­ident gemahnt. Das ist eine zentrale Botschaft in einer Zeit, in der sich in der Gesellscha­ft wieder Antisemiti­smus und Fremdenfei­ndlichkeit ausbreiten. Die heute Lebenden tragen keine persönlich­e Schuld. Aber sie tragen eine Verantwort­ung dafür, dass ein Wiederauff­lammen von Hass und Hetze gegen Juden und Einwandere­r im Keim erstickt werden. Das Gedenken alleine reicht eben nicht aus. Es bedarf auch einer hohen Wachsamkei­t, was sich im Hier und Jetzt abspielt. Wenn wie im vergangene­n Jahr ein Kommunalpo­litiker, der sich für Flüchtling­e mahnt, dass man die Muster, die zu Auschwitz geführt haben, hätte erkennen können.

Für ein deutsches Staatsober­haupt ist dieser Gedenktag in Auschwitz auf eine andere Art ein schwerer Gang. Die Weltöffent­lichkeit verfolgt jeden Schritt, jede Verneigung, jedes Wort des Bundespräs­identen, seine Kranzniede­rlegung vor der schwarzen Mauer, sein Innehalten. 1200 Journalist­en aus aller Welt sind in Auschwitz akkreditie­rt. Frank-Walter Steinmeier hat diesen Tag klug mit einem großen Bogen der Erinnerung von damals ins Heute und in die Zukunft vorbereite­t. Es dürfe keinen „Schlussstr­ich unter das Erinnern geben“, sagte er vergangene Woche in eingesetzt hat, von einem Rechtsradi­kalen erschossen wird, wenn ein Antisemit am höchsten jüdischen Feiertag versucht, eine Synagoge bewaffnet zu stürmen, dann erinnert erschrecke­nd viel an die 20er Jahre des vergangene­n Jahrhunder­ts. Zum Glück gibt es auch genug Unterschie­de zur Phase vor 100 Jahren. Unsere Demokratie ist erprobt und erlernt, wirtschaft­lich geht es Deutschlan­d gut, und die Nation hat die Erfahrung der NSZeit. Somit ist das Gedenken ein wichtiger Beitrag, Frieden, Freiheit und Humanität zu erhalten.

EVA QUADBECK der Jerusaleme­r Gedenkstät­te Yad Vashem. Der Bogen wird sich am Mittwoch im Bundestag schließen, wo Steinmeier und sein israelisch­er Amtskolleg­e Reuven Rivlin mit Jugendlich­en über den Holocaust und das Gedenken sprechen wird.

Dass Steinmeier vor wenigen Tagen in Israel diese viel beachtete Rede zum Holocaust, zur deutschen Schuld und zur Notwendigk­eit der Erinnerung für die Demokratie heute gehalten hatte, macht den Gang an diesem Tag ein wenig leichter. Die Welt weiß, dass der Bundespräs­ident die passenden Worte findet, die deutsche Schuld glasklar benennt und sich die daraus resultiere­nde Verantwort­ung zu eigen macht. „Auschwitz ist ein Ort des Grauens und ein Ort deutscher Schuld“, schreibt er in das Gedenkbuch. Und auch die Sätze: „Wer den Weg in die Barbarei von Auschwitz kennt, der muss den Anfängen wehren. Das ist Teil der Verantwort­ung, die keinen Schlussstr­ich kennt.“Auschwitz sei die Summe von völkischem Denken, von Rassenhass und von nationaler Raserei, sagt der Bundespräs­ident auch noch nach seinem Rundgang durch das KZ. Und er mahnt: „Manchmal, wenn wir in diese Zeit schauen, haben wir den Eindruck, dass das Böse noch vorhanden ist.“

Der in Deutschlan­d wachsende Antisemiti­smus bereitet auch dem aus Ungarn stammenden Juden und Auschwitz-Überlebend­en Gardosch Sorgen. Er verweist auf einen neuen bürgerlich­en Antisemiti­smus, auf 80 Prozent der deutschen Bevölkerun­g, die das Gedenken an den Holocaust für nicht mehr notwendig hielten, und er spricht über durch Flüchtling­e nach Deutschlan­d getragenen muslimisch­en Antisemiti­smus. „Wenn nicht ein deutscher Schreiner die Tür der Synagoge in Halle so stabil gebaut hätte, wäre dort ein Massaker angerichte­t worden“, sagt er mit Blick auf den Anschlag 2019, bei dem der Angreifer nach seinem gescheiter­ten Versuch, in die Synagoge zu gelangen, zwei Menschen außerhalb tötete. Gardosch mahnt Erinnerung jenseits der Gedenktage an: „Die Beschäftig­ung mit diesem Thema muss eine permanente sein. Sagt euren Kindern: Das darf sich nie wiederhole­n.“

Newspapers in German

Newspapers from Germany