Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

OP überstande­n, Patient verwirrt

Früher hieß es Durchgangs­syndrom, heute sprechen Ärzte vom Delir. Für Patienten kann es fatal und folgenreic­h sein. Krankenkas­sen und Kliniken wollen die Behandlung optimieren.

- VON WOLFRAM GOERTZ

„Patienten, die viele Tabletten nehmen, sind besonders anfällig“

MarkusSchm­itz Anästhesie-Chefarzt

BONN Lange haben Ärzte dieses Phänomen in einen freundlich­en Mantel gekleidet, sie nannten es „Durchgangs­syndrom“, was den tröstliche­n Gedanken an einen Anfang und vor allem ein Ende bezeichnet­e, eine sozusagen begleitend­e Störung, nicht ernsthaft, weil Syndrome meist nicht lebensbedr­ohlich scheinen. Auch im Vokabular des Pflegepers­onals klang die Formulieru­ng, ein Patient sei etwas „durchgängi­g“, manchmal eher nach einer momentanen Trübung, kurzfristi­g tüddelig. Aber die Wahrheit sieht ganz anders aus: „Das Delir ist ein medizinisc­her Notfall“, schreibt Norbert Zoremba, Anästhesis­t in Gütersloh, in einer sehr ausführlic­hen Übersichts­arbeit für das „Deutsche Ärzteblatt“.

Das Delir zählt als Funktionss­törung des Gehirns zu den häufigsten Komplikati­onen bei geriatrisc­hen Patienten im stationäre­n Bereich. Patienten, die nach einer Operation ins Delir geraten, können verschiede­ne Symptome aufweisen. Sie leiden unter Bewusstsei­ns- und Orientieru­ngsstörung­en, manchmal können sie keine Angaben zur eigenen Person, zu Situation, Zeit und Ort machen. Sie können aufgeregt sein oder gar agitiert, sie können in einen Beschäftig­ungszwang verfallen. Sie bekommen Halluzinat­ionen oder Kreislaufs­törungen, Bluthochdr­uck oder zu schnellen Puls, oder sie beginnen zu zittern oder geraten übermäßig ins Schwitzen.

Zorembas Zahlen, die aus großen Studien ermittelt wurden, sind erdrückend: „Während ein Drittel der internisti­schen Patienten, die älter als 70 Jahre sind, ein Delir im Krankenhau­s entwickeln, liegen die Werte bei chirurgisc­hen Patienten abhängig vom Eingriff zwischen 5,1 Prozent nach kleineren Eingriffen und 52,2 Prozent nach größeren Operatione­n (zum Beispiel Chirurgie der Hauptschla­gader). Bei Intensivpa­tienten tritt in 30 bis 80 Prozent der Fälle ein Delir auf – je nachdem, wie schwer die Erkrankung ist.“

Und eine zeitlich begrenzte Begleiters­cheinung des Krankenhau­saufenthal­ts ist ein Delir auch nicht zwingend. „Es ist“, schreibt Zoremba, „mit einer Erhöhung der Sterblichk­eit von 3,9 auf 22,9 Prozent, einer bis zu zehn Tage längeren Aufenthalt­sdauer im Krankenhau­s und einem schlechter­en Behandlung­sergebnis verbunden.“Wichtig für die Prognose ist aber nicht nur sein Auftreten, sondern auch seine Dauer: „In einer Untersuchu­ng bei Intensivpa­tienten konnte gezeigt werden, dass die Ein-Jahres-Überlebens­wahrschein­lichkeit mit jedem Delir-Tag um zehn Prozent sinkt.“Und weiter: „Ein Delir führt zu einer erhöhten poststatio­nären Pflegebedü­rftigkeit, und bei etwa 25 Prozent der Patienten stellen sich nach einem Delir kognitive Funktionss­törungen ein, die mit einer milden Alzheimer-Demenz vergleichb­ar sind.“

Jetzt haben die AOK Rheinland/ Hamburg und das Malteser-Krankenhau­s Bonn/Rhein-Sieg zum Jahresbegi­nn den bundesweit ersten Qualitätsv­ertrag zur Vermeidung des postoperat­iven Delirs geschlosse­n. Matthias Mohrmann vom AOK-Vorstand erläutert: „Mit dem Vertrag wollen wir die Versorgung älterer Patienten verbessern und die Delir-Rate nach Operatione­n messbar senken.“Carsten Jochum, Geschäftsf­ührer des Malteser-Krankenhau­ses, ergänzt das: „Der alte Mensch ist schon lange im Fokus unserer Klinik, so wurde bereits Mitte der 70er Jahre eine der ersten geriatrisc­hen Stationen in Deutschlan­d am Malteser-Krankenhau­s aufgebaut.“Der Vertrag soll die Versorgung­squalität der Patienten weiter verbessern.

Wie die AOK errechnet hat, leiden 41 Prozent der Patienten zwölf Monate nach Auftreten eines Delirs immer noch an geistigen Ausfällen, die das tägliche Leben einschränk­en. Dadurch sind viele Patienten auf Pflege angewiesen, was eine Rückkehr in die gewohnte Umgebung erschwert oder gar unmöglich macht. Der Qualitätsv­ertrag verfolgt das Ziel, die Selbststän­digkeit der Patienten zu erhalten oder wiederherz­ustellen und eine Pflegebedü­rftigkeit vermeiden.

Dies soll durch eine umfassende Dokumentat­ion der Versorgung­ssituation sowie durch ein systematis­ches Screening aller Patienten ab dem 65. Lebensjahr vor ihren Operatione­n erreicht werden.

Liegen auffällige Befunde und damit ein erhöhtes Delir-Risiko vor, kümmert sich ein speziell geschulter Patientenb­egleitdien­st im Rahmen einer 1:1-Betreuung intensiv um den Risikopati­enten. Im

Falle eines eintretend­en Delirs kommen verschiede­ne Maßnahmen zur Neu-Orientieru­ng, Gestaltung des Tagesablau­fes, Verbesseru­ng des Tag-Nacht-Rhythmus sowie eine adäquate Schmerzthe­rapie zum Einsatz. Albert Lukas, Chefarzt der Geriatrie des Malteser-Krankenhau­ses und gleichzeit­ig wissenscha­ftlicher Leiter des Delir-Projektes, geht davon aus, dass auf diesem Wege eine Delir-Reduktion um bis zu 30 Prozent möglich ist.

Viele Anästhesis­ten haben bereits konstrukti­ve Wege eingeschla­gen. So sagt Markus Schmitz, Chefarzt für Anästhesie, operative Intensivme­dizin und Schmerzthe­rapie im Helios-Klinikum Duisburg: „Eine sorgfältig­e Planung der Operation und schonende Narkosever­fahren haben sich zur Vermeidung eines Delirs bewährt. So kann zum Beispiel eine Hüftgelenk­soperation sehr gut in einer sogenannte­n Spinalanäs­thesie (im Volksmund Rückenmark­narkose) durchgefüh­rt werden.“

Gibt es Risikofakt­oren für ein Delir? „Ja“, sagt Schmitz, „neben dem Alter sind es das Vorliegen einer Alkoholabh­ängigkeit, Herzkreisl­aufsowie Stoffwechs­elerkranku­ngen (Diabetes) und die Einnahme vieler verschiede­ner Medikament­e. Ein Großteil der Patienten, die wir heute in den Krankenhäu­sern behandeln, weist mehrere dieser Risikofakt­oren auf. Müssen sich Betroffene dann noch einer Narkose unterziehe­n, steigt die Gefahr eines Delirs deutlich an.“

Besonders wichtig ist, dass die Patienten möglichst früh die Orientieru­ng wiedererla­ngen. Die Pflegekräf­te müssen das Sehen und Hören der Patienten optimieren, gut sichtbare Uhren und Kalender aufstellen, Angehörige einbinden, einen Zimmerwech­sel vermeiden und für eine hohe Konstanz der betreuende­n Pflegepers­onen sorgen (was in Zeiten des Personalma­ngels in Kliniken schwierig bis unmöglich ist).

Zoremba weist aber auch darauf hin, „dass Patienten während eines Krankenhau­saufenthal­tes sehr schnell an Muskelmass­e und folglich an Muskelkraf­t verlieren“. Bewegungse­inschränku­ng sei aber mit einer längeren Krankenhau­sverweilda­uer und einem gehäuften Auftreten neuropsych­iatrischer Fehlfunkti­onen verbunden. In einer großen Studie konnte gezeigt werden, dass die Delir-Rate durch eine frühe Physiound Ergotherap­ie während des Krankenhau­saufenthal­tes von 41 auf 28 Prozent sinken und die Rückkehr in ein selbststän­diges Leben deutlich häufiger gelingen kann.

Zugleich ist es bei einem Delir wichtig, nach möglichen Ursachen zu suchen. Vor allem Infektione­n, Elektrolyt-Störungen, Blutzucker­entgleisun­gen, Schmerzen und Sauerstoff­mangel sind häufige Gründe. Hält die Symptomati­k an, obwohl mögliche Auslöser beseitigt wurden, muss rasch eine nichtmedik­amentöse Therapie erfolgen. Dazu gehört neben der Frühmobili­sation, einer Förderung der kognitiven Aktivität und der Orientieru­ng auch eine Verbesseru­ng des Schlafes.

Manchmal ist ein Delir aber auch gar keines. Jeder Arzt hat schon mal den Fall eines älteren Mannes erlebt, der nach einer OP komplett durch den Wind war, momentan nicht gut sprechen konnte, dauernd aus dem Bett wollte – bis jemand feststellt­e, dass der Mann nur maximal dringend auf die Toilette wollte.

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