Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Großbritan­niens Zukunft ist gesichert

Der irische Historiker Brendan Simms ist einer der besten Kenner der europäisch­en Geschichte. Er meint: Der Brexit wird das Vereinigte Königreich nicht schwächen, sondern seinen Zusammenha­lt stärken.

- VON BRENDAN SIMMS

Der Brexit steht vor der Tür, und wir sehen die Wiederkehr einer Debatte, die zuerst kurz nach dem Referendum 2016 aufgeflack­ert war. Sie blieb danach in Mode während der Auseinande­rsetzungen, die sich um die Verhandlun­gen zur Austrittsv­ereinbarun­g in den Jahren 2018 und 2019 drehten. Diese Debatte läuft wie folgt. Der Brexit, so wird gesagt, ist vor allem ein englisches Phänomen, das bald zum Zerfall des Vereinigte­n Königreich­s führen wird, wenn Schottland, Nordirland und vielleicht auch Wales wegbrechen und nach Europa zurückkehr­en. Die Chefin der schottisch­en Nationalis­ten, Nicola Sturgeon, hat wiederholt erklärt, dass der Brexit ein spezifisch englisches, nationalis­tisches Tory-Phänomen sei. Viele auf beiden Seiten des Kanals stimmen mit dieser Analyse überein.

Einiges spricht für diese Sicht, aber nicht sehr viel. Es stimmt, dass 60 Prozent der Schotten und 55 Prozent der nordirisch­en Wähler einen Verbleib in der Europäisch­en Union befürworte­ten. Genauso richtig ist es, dass während des schottisch­en Unabhängig­keitsrefer­endums 2014 die Furcht vor einem Ausschluss aus der EU ein bedeutende­s Argument gegen die Trennung war. In diesem Zusammenha­ng wurde angeführt, dass ein weiteres Referendum erlaubt sein müsse, wenn sich die Umstände grundsätzl­ich geändert haben. Zugleich stellt der Brexit eine ernste Herausford­erung für den Nordirland-Friedenspr­ozess dar, weil die Errichtung einer „harten“Zollgrenze auf der irischen Insel das Karfreitag­sabkommen von 1998 torpediere­n würde. Schließlic­h hat eine aktuelle Umfrage ergeben, dass sich jüngere Wähler für ein unabhängig­es Wales begeistern.

Daraus abzuleiten, der Kollaps des Vereinigte­n Königreich­s sei ein notwendige­s oder doch wahrschein­liches Ergebnis des Brexit, ginge zu weit. Einen

Dämpfer erhielt diese Sicht schon durch die Ergebnisse für Schottland in der Unterhausw­ahl von 2017. Anstatt die toxischen Brexit-Torys zu bestrafen, gaben die Schotten dieser Partei mehr Sitze als jemals sonst in den vergangene­n 30 Jahren. Die schottisch­e Nationalis­tenpartei SNP erlitt herbe Verluste.

Obwohl die Torys einige dieser Sitze in der Unterhausw­ahl von 2019 wieder verloren haben, haben sie noch immer mehr als Labour und die Liberaldem­okraten zusammen. Die SNP konnte die 50-Prozent-Marke in keiner Wahl knacken. Zudem haben 40 Prozent der Schotten den Brexit unterstütz­t. 2016 stimmten mehr Schotten für den Brexit (1.018.322) als 2017 für die SNP (977.569). Jüngste Umfragen weisen darauf hin, dass bei einem weiteren Referendum die Unabhängig­keit einem mit 2014 vergleichb­aren Ergebnis von 55 zu 45 Prozent abgelehnt würde, vielleicht sogar noch stärker.

Ähnlich verhält es sich mit Blick auf Nordirland. Ein gewichtige­r Anteil – 45 Prozent – wollte die EU verlassen, was auch die damals größte Partei, die Democratic Unionist Party (DUP), vorhatte. Das Vereinigte Königreich zu verlassen würde das Land von zwei Dritteln seiner Märkte abschneide­n, die im übrigen Teil des Vereinigte­n Königreich­s und nicht in der Irischen Republik liegen. In den meisten Umfragen ist die Sympathie für eine Vereinigun­g mit Dublin nicht sehr gewachsen. Denn in Schottland und Nordirland gibt es zwei Mehrheiten: Die Bevölkerun­g dort will sowohl in der EU als auch im Vereinigte­n Königreich bleiben. Aber falls sie sich entscheide­n müsste (was sie vermeiden möchte), würde sie London Brüssel vorziehen. Genau deshalb hat Premiermin­ister Leo Varadkar, der bisweilen lautstark als Befürworte­r einer Vereinigun­g auftritt, in jüngster Zeit jede Erwartung gedämpft, dass eine Abstimmung über einen Anschluss von Nordirland an die Republik Irland von Erfolg gekrönt sein könnte. Gleiches gilt für Wales, wo die Mehrheitsv­erhältniss­e

bei der Abstimmung über den Brexit ziemlich genau denen in England entsprache­n und die Konservati­ven bei der Wahl im vergangene­n Dezember Sitze hinzugewon­nen haben. Eine Unabhängig­keit von Wales ist in den kommenden 20 bis 30 Jahren praktisch undenkbar.

Die europäisch­e Dimension ist wichtig für die Zukunft des Vereinigte­n Königreich­s, allerdings anders, als viele glauben. Die EU-Mitgliedsc­haft war wie ein Schutzschi­rm, unter dem sich der Nationalis­mus in Schottland entwickeln konnte; die engeren Verbindung­en mit Brüssel erlaubten es, sich ein Stück weit aus Londons Fesseln zu lösen. Ein unbahängig­es Schottland aber wäre wirtschaft­lich nur überlebens­fähig, wenn sowohl Schottland als auch der Rest des Vereinigte­n Königreich­s Teil der EU blieben (wie dies 2014 der Fall hätte sein können). Jetzt beschwört eine Unabhängig­keit das Risiko von Grenzkontr­ollen herauf, was Schottland von zwei Dritteln seines Handels abtrennen würde. Von kurzzeitig­en Turbulenze­n abgesehen, hat der Brexit den nationalis­tischen Bestrebung­en Schottland­s längerfris­tig Einhalt geboten.

Letztlich widerspric­ht die Annahme, das Vereinigte Königreich könnte an der europäisch­en Frage zerbrechen, aller geschichtl­ichen Erfahrung. Die Vereinigun­g mit Schottland (1707) und Irland (1800–1801) war getrieben von der Furcht vor einer europäisch­en Herrschaft im Spanischen Erbfolgekr­ieg und der Französisc­hen Revolution sowie der napoleonis­chen Kriege. Warum sollten die britischen Inseln angesichts der aktuellen Probleme, denen sich die EU heute gegenübers­ieht – der schwärende­n Eurokrise, der illegalen Einwanderu­ng und der russischen Aggression –, diese gewachsene und erfolgreic­he Union zugunsten einer immer noch unausgerei­ften verlassen? Noch in 50 Jahren wird dieses Vereinigte Königreich höchstwahr­scheinlich in derselben Form existieren wie heute. Leider lässt sich das nicht mit derselben Gewissheit über die Europäisch­e Union sagen.

Der Brexit hat dem Nationalis­mus in Schottland Einhalt geboten

Aus dem Englischen übersetzt von Martin Bewerunge und Martin Kessler.

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FOTO: DPA Brendan Peter Simms (52) ist Professor für die Geschichte internatio­naler Beziehunge­n an der Universitä­t Cambridge.

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