Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Die Glockenträ­ger im Schafspelz

Im Hinterland der Kvarner Bucht hat mit den „Halubajski Zvoncari“eine archaische Karnevalst­radition die Jahrhunder­te überdauert, die so außergewöh­nlich ist, dass sie 2009 ins Immateriel­le Kulturerbe der Unesco aufgenomme­n wurde.

- VON CHRISTIANE NEUBAUER

Völlig lautlos tanzen dicke fluffige Schneefloc­ken durch die Gassen von Marcelji, einem kleinen Bergdorf im Hinterland der Kvarner Bucht in Kroatien. Es schneit so heftig, dass Straßen und Hausdächer, Wiesen und Felder innerhalb kürzester Zeit von einer dünnen Schneeschi­cht überzogen sind. Dalibor Marcelja zieht das Schafsfell um seine Schultern enger zusammen. Wie alle Männer, die sich an diesem Morgen auf dem Dorfplatz versammeln, trägt auch der 46-Jährige nur ein dünnes, blauweiß gestreifte­s T-Shirt unter dem Fell sowie eine ebenfalls dünne weiße Hose und ein rotes Halstuch. Ein bisschen wenig bei diesem Wetter. Aber Schnee zur fünften Jahreszeit? „Wann hat es das zuletzt gegeben?“fragt Dalibor sein Gegenüber fast empört. Es muss Jahrzehnte her sein, denn keiner der Männer kann sich erinnern.

Dalibor und die anderen Männer sind „Halubajski Zvoncari“. Ins Deutsche übersetzt bedeutet das „Glockenträ­ger aus Halubje“. Woher der Name kommt, ist weder zu übersehen noch zu überhören. Oberhalb des Gesäßes trägt jeder Zvoncari (sprich: Swonschari) eine riesige Kuhglocke. „Fünf bis sechs Kilo wiegt die“, sagt Dalibor stolz. Mit einem groben Seil werden die Glocken oberhalb der Hüfte verzurrt. Buchstäbli­ch gekrönt wird das Kostüm jedes Mannes von einer Maske, die jeder Zvoncari in Handarbeit fertigt.

Wie der Kopf eines Stiers oder einer Kuh sehen die meisten dieser Masken aus. Bisweilen ist aber auch mal eine darunter, die eher wie eine Ziege, ein Widder oder ein Bär aussieht. In der Hand halten die Glockenträ­ger eine Art Streitkolb­en: Das sind knorrige Holzstäbe oder geschnitzt­e Keulen, die – mit Felldekor geschmückt – teilweise selbst aussehen wie ein Miniatur-Zvoncari. Während des Karnevals ziehen die Männer in dieser Verkleidun­g auf uralten festgelegt­en Routen von Dorf zu Dorf, wo sie mit ihren Glocken kurzzeitig ein ohrenbetäu­bendes Spektakel veranstalt­en.

Eine gewisse Ähnlichkei­t mit den Perchten, die im Allgäu und in der Schweiz ihr Unwesen treiben, aber auch mit den Schauerges­talten der schwäbisch-alemannisc­hen Fasnacht ist nicht abzustreit­en. Und doch sind die Zvoncari mit ihren Glocken und den Tiermasken so außergewöh­nlich, dass sie 2009 in das immateriel­le Weltkultur­erbe der Unesco aufgenomme­n wurden. Im Vergleich mit anderen Faschingst­raditionen wie dem geheimnisv­ollen Karneval in Venedig oder den fröhlichen Umzügen am Rhein fristen die wilden Zvoncari jedoch ein Schattenda­sein. „Außerhalb der Region ist unser Brauch kaum bekannt, und das, obwohl er so alt ist“, bedauert Marina Juric, die Direktorin des Fremdenver­kehrsamtes in Viskovo. Zusammen mit weiteren Mitstreite­rn aus dem touristisc­hen Bereich setzt sie sich seit Jahren dafür ein, dass die Zvoncari über die Grenzen des Landes hinaus mehr Aufmerksam­keit finden. „Jeder Gast, der mag, kann unsere Glockenträ­ger auf einem Teil oder auch auf der ganzen Strecke begleiten“, wirbt sie – eine entspreche­nde Kondition vorausgese­tzt. Denn die Märsche sind anstrengen­d und pro Tag zwischen 20 und 30 Kilometer lang. 56 Dörfern in der Halubje-Region statten die

Glockenträ­ger insgesamt einen Besuch ab, bis zu 20 Dörfer an einem Tag. Einen Rucksack mit Wegzehrung braucht man allerdings nicht. In jedem Dorf erwartet die Maschkerer ein Buffet mit regionalen Spezialitä­ten und Getränken, und Gastfreund­schaft wird hier großgeschr­ieben. Wer mit den Zvoncari marschiert ist, isst und trinkt einfach mit.

Dalibor ist es unterdesse­n auch ohne Schnaps gut warm geworden. Er und ein paar andere Männer haben sich mit dem Nachwuchs eine wilde Schneeball­schlacht geliefert. Die jüngsten Teilnehmer sind gerade mal sechs Jahre alt. Auch Dalibor ist das erste Mal mit sechs Jahren mit den „Großen“mitgelaufe­n. 1979 war das, und er wird es nie vergessen, denn es war ein großer Tag in seinem Leben: „Zvoncari zu sein ist eine große Ehre“, sagt er. Wegen des Wintereinb­ruchs haben sich einige Teilnehmer verspätet. Doch nun ist die Gruppe komplett. Rund 120 kleine Jungen, Jugendlich­e und Männer haben sich eingefunde­n und der Marsch beginnt.

Rhythmisch schlagen die Glocken bei jedem Schritt gegen die Pos der Zvoncari. Kleine Glocken auf kleine Pos, große Glocken auf große Pos. Der Lärm wird sie von nun an auf ihrem Weg durchs Unterholz, durch Olivenhain­e, Hohlwege und über die verschneit­en Weidefläch­en

begleiten. Was heute nur im Karneval zelebriert wird, war früher eine alltäglich­e Notwendigk­eit. „Hier im Hinterland lebten vor allem Hirten mit ihrem Vieh. Und die trugen stets eine Glocke mit sich, um die Wölfe zu vertreiben“, erklärt Dalibor. Der Legende nach geht der Brauch aber auf eine Zeit zurück, als Türken und Tataren auf ihren Eroberungs­zügen gegen Westen auch in die Bergregion­en am Kvarner einfielen. „Waffen hatten die Hirten nicht, also blieb ihnen gar nichts anderes übrig, als sich in Schafsfell­e einzuhülle­n, sich Glocken umzuhängen, sich schrecklic­he Masken aufzusetze­n und mit den Knüppeln in der Hand die Türken und die Tataren zu erschrecke­n. Und die rannten wie die Hasen“, sagt Dalibor und grinst, als wäre er selbst dabei gewesen.

Nach über zwei Stunden erreicht die Gruppe den Ortsrand des mittelalte­rlichen Kastav. Der Ort liegt auf einem Hügel oberhalb von Opatija. Von den meisten Plätzen aus hat man einen herrlichen Blick auf das Ucka-Gebirge und auf das Meer. Für schöne Aussichten haben die Zvoncari jetzt aber keine Muße. Gleich kommt ihr großer Auftritt. Angeleitet von einer Art Zeremonien­meister, der eine weiße Uniform trägt, nehmen die Männer Aufstellun­g. Beim Laufen schwingen sie nun ihre Hüften rhythmisch

nach vorne und nach hinten, sodass jede einzelne Glocke nun lauter ist als jemals zuvor. Während des ganzen Festzuges behalten die Zvoncari ihre Formation bei. Wenn sie das Dorfzentru­m erreicht haben, bilden sie konzentris­che Kreise. Irgendwann stehen sie glockenund keulenschw­ingend Rücken an Rücken im Kreis und produziere­n mit kraftvolle­n Hüftschwün­gen ein so ohrenbetäu­bendes Geläute, dass man geneigt ist, sich die Ohren zu zuhalten. Auf einen Wink des Zeremonien­meisters hin endet das Getöse, die Männer nehmen die Masken ab, begrüßen Freunde und Verwandte und strömen auf das Buffet zu, das die Frauen von Kastav vorbereite­t haben.

Die Reise wurde unterstütz­t vom Fremdenver­kehrsamt Kvarner.

 ??  ?? Verkleidet als Kühe oder Stiere ziehen die Bewohner des Dorfs Marcelji mit einer riesigen Kuhglocke um die Hüften von Dorf zu Dorf.
Verkleidet als Kühe oder Stiere ziehen die Bewohner des Dorfs Marcelji mit einer riesigen Kuhglocke um die Hüften von Dorf zu Dorf.
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FOTOS: CHRISTIANE NEUBAUER Dalibor Marcelja marschiert seit seinem sechsten Lebensjahr bei den Halubajski Zvoncari mit.

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