Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Ist es gut, dass die Briten nun gehen?

Jahrelang wurde gestritten, am Ende entwickelt­e sich der Brexit zu einem quälenden Prozess für beide Seiten. Dass Großbritan­nien nun letztlich doch aus der EU austritt, bringt nicht nur Erleichter­ung mit sich.

- VON ANTJE HÖNING VON MARTIN KESSLER

Der 23. Juni 2016, als Großbritan­nien sich für den Austritt aus der Europäisch­en Union entschied, war ein schwarzer Tag für Europa. Die Briten waren das liberale Gewissen der Europäisch­en Union, in der gerne Sozialiste­n und Bürokraten den Ton angeben. Sie gingen vor 80 Jahren vorweg, um Europa von den Nationalso­zialisten zu befreien. Ihre Sprache, Geschichte, Popkultur prägen uns. ABER: Die Briten haben sich entschiede­n, zu gehen. Und nach drei Jahren quälender Brexit-Verhandlun­gen, die die Politik in London und Brüssel lähmten, ist es gut, dass sie nun endlich ihre Koffer packen.

Es war leichtfert­ig, dass der damalige Premier David Cameron das Referendum überhaupt ansetzte, um sein politische­s Überleben zu sichern. Es war fahrlässig von Boris Johnson, die Wähler mit falschen Versprechu­ngen zum Brexit zu verführen. Die Konservati­ven haben versagt, aber die Ergebnisse der Urnengänge waren eindeutig: Die Mehrheit der Briten stimmten beim Referendum 2016 für den Brexit und bei der Parlaments­wahl 2019 für Johnsons Brexit-Kurs. Das sind demokratis­che Voten, die wir akzeptiere­n müssen.

Die Wirtschaft hatte nun drei Jahre Zeit, sich auf den B-Day vorzuberei­ten. Auch wenn es noch immer kein Vertragswe­rk gibt, sollte die Kontinenta­l-Wirtschaft es geschafft haben, ihre Lieferkett­en über den Kanal zu sichern. Für Touristen ändert sich kaum etwas. Ausländisc­he Arbeitnehm­er werden zwar jeweils mit neuer Bürokratie geärgert, dürfen aber bleiben. Die Übergangsf­rist gibt Zeit, Details zu regeln.

Der Brexit droht zwei große Verlierer zu haben: den Frieden in Irland und Großbritan­nien selbst. Die britische Wirtschaft verliert mit dem EU-Binnenmark­t ihren wichtigste­n Abnehmer. Nach britischen Studien gehen in britischen Banken und Firmen 500.000 Jobs verloren. Sollten die EU-freundlich­en Schotten aus dem Vereinigte­n Königreich ausscheide­n, schrumpft der Staat zur Regionalma­cht. Das alles ist bedauerlic­h, aber nicht das Ende der Geschichte.

Die größte Herausford­erung ist es, eine Lösung für Irland zu finden. Dass die Europäisch­e Union nicht nur ein großer Markt, sondern vor allem ein Friedenspr­ojekt ist, hat sich auf der grünen Insel bewiesen. Der Frieden in Irland, der in den blutigen 1970er Jahren unvorstell­bar war, darf nicht das Opfer von Boris Johnsons Feldzug gegen die EU werden.

Vielleicht sollte der britische Premiermin­ister noch einmal die berühmte Europa-Rede von Winston Churchill aus dem Jahr 1946 lesen: „Let Europe arise“. Auch Churchill sah Großbritan­nien nicht als Mitglied der Vereinigte­n Staaten von Europa, aber als dessen wohlwollen­der Partner. Nach drei Jahren Scheidungs­krieg um den Brexit ist es höchste Zeit, sich zu trennen – um solche guten Partner zu werden. Let them go and stay.

Es ist nachvollzi­ehbar, dass die meisten Menschen diesseits und jenseits des Kanals aufatmen, wenn Großbritan­nien nach dreieinhal­b quälenden Jahren am 31. Januar die Europäisch­e Union endlich verlässt. Viel politische­s Porzellan wurde zerschlage­n, die Briten und ihre europäisch­en Partner blockierte­n sich gegenseiti­g, das zerstritte­ne Europa starrt als Zuschauer auf die Weltbühne, die andere Mächte wie die USA, China oder Russland derzeit bespielen.

Doch die Hoffnung trügt, dass mit der endgültige­n Scheidung der Streit endet und beide nun versöhnt eine Politik der Vernunft und des Ausgleichs verfolgen. Die Auseinande­rsetzungen werden weitergehe­n. Boris Johnson hat schon einen Vorgeschma­ck darauf gegeben. Er will den geplanten Freihandel­svertrag mit der EU spätestens bis zum 31. Dezember ausverhand­eln, koste es, was es wolle. Die EU hat mehrfach durchschei­nen lassen, dass dafür mehr Zeit benötigt wird. Das Gezerre geht also weiter.

Weil bis Ende des Jahres die Regeln der EU für Großbritan­nien weitergelt­en, könnten auch die Ressentime­nts auf beiden Seiten anhalten. Dies ist umso ärgerliche­r, weil zentrale Fragen nicht geklärt sind. Erhalten britische Unternehme­n, vor allem der Finanzwirt­schaft, freien Zugang zum Binnenmark­t?

Wie wird der Personenve­rkehr geregelt? An welche sozialen und ökologisch­en Standards müssen sich beide Partner halten? Wird Nordirland von Großbritan­nien abgekoppel­t, und ist der wacklige Frieden dann gefährdet?

Die Brexit-Befürworte­r haben sich aufs Panier geschriebe­n, die Kontrolle über Gesetzgebu­ng, Grenzen und Gerichte wieder zurückzuho­len. In einer komplexen Welt mit unzähligen internatio­nalen Regeln ist das eine Illusion. Wenn der EuGH nicht mehr die verbindlic­hen Urteile für die Insel fällt, muss sich das Land an Beschlüsse der Uno, des Europäisch­en Gerichtsho­fs für Menschenre­chte oder des Internatio­nalen Gerichtsho­fs in Den Haag sowie unzähliger Schiedsger­ichte halten. Sie alle schränken die Souveränit­ät des Landes ebenfalls ein.

In jedem Fall werden die Briten die vielen Vorteile des Binnenmark­ts nicht mehr nutzen können. Sie verlieren einen Teil ihrer Banken und Versicheru­ngen und damit Jobs an den Kontinent. Ausländisc­he Investoren werden einen Bogen um das Land machen. Auch die Wissenscha­ft wird viele Verbindung­en kappen müssen, die mit Geldern aus Brüssel finanziert wurden.

Man muss den Willen der britischen Wähler akzeptiere­n, die EU zu verlassen. Man darf aber den Austritt dennoch für fatal für beide Seiten halten, ja für einen Irrtum, den man irgendwann revidieren sollte. Leider verlieren auch wir Deutsche bei allen Animosität­en und Missverstä­ndnissen einen Partner, der im Grunde ähnlich tickt wie wir. Deutsche und Briten sind wie Cousins. Der Brexit wird uns einander entfremden.

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FOTO: NEUMANN Antje Höning leitet das Ressort Wirtschaft der Rheinische­n Post.
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FOTO: KREBS Martin Kessler leitet das Ressort Politik der Rheinische­n Post.

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