Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Steinmeier und Rivlin nehmen Jugend in die Pflicht
Die Präsidenten Deutschlands und Israels sprachen über den Holocaust, Erinnerungsarbeit und gesellschaftliches Engagement.
BERLIN Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Israels Staatsoberhaupt Reuven Rivlin haben in den vergangenen Tagen viel über das Erinnern gesprochen. Über die deutsche Schuld und der daraus gewachsenen Verantwortung, über die Bedeutung des „Nie wieder“. Die Gedenkveranstaltungen anlässlich des 75. Jahrestages der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz sind auch historisch, weil die Präsidenten sie erstmals alle gemeinsam begehen. Genauso wichtig wie das Erinnern ist für Steinmeier aber der Blick nach vorne. „Meine Sorge ist nicht, dass wir Deutsche die Vergangenheit leugnen“, sagt der Bundespräsident bei seiner Rede zum Gedenktag im Parlament. „Meine Sorge ist, dass wir die Vergangenheit inzwischen besser verstehen als die Gegenwart.“Auch deswegen diskutierten Steinmeier und Rivlin am Mittwoch im Bundestag mit jungen Menschen.
„Wir Politiker haben eine große Verantwortung, aber wir werden sie nie erfüllen können, wenn große Teile der Gesellschaft sie nicht auch erfüllen“, sagt Steinmeier und appelliert im Kampf gegen Fremdenhass an den Nachwuchs: „Wir dürfen nicht mehr wegschauen und ignorieren. Deshalb brauchen wir Ihr Engagement.“Der Nachwuchs sind 60 Menschen, die zur internationalen Jugendbegegnung des Bundestags gehören. Sie kommen aus Deutschland,
Frankreich, Israel oder der Ukraine, die meisten sind gerade volljährig. In den vergangenen Tagen haben sie viel diskutiert, auch Auschwitz besucht. „Wenn man sich die aktuelle Entwicklung anschaut, dann wächst der Antisemitismus“, sagt Annika Hildebrecht (19). Das, was die Präsidenten ihr erzählen und was sie in Auschwitz gesehen hat, will sie weitergeben: „Vor allem in der Kinder- und Jugendarbeit.“
Die Politiker wollen, dass die Jugend spürt, was während des Holocaust geschehen ist. „Ich habe die Sorge, dass wir uns bald nicht mehr erinnern können, wenn es keine Zeugen mehr gibt, die erzählen“, sagt Reuven Rivlin. Eine junge Frau fragt, was den Präsidenten durch den
Kopf gegangen sei, als sie am Montag in Auschwitz waren. „Es geht einem Präsidenten nicht anders als Ihnen auch“, antwortet Steinmeier. „Zu wissen, was dort passiert ist, ist das eine. Aber selber durch die Gaskammern zu gehen, an dem Haufen mit abgeschnittenen Haaren vorbei und da, wo die Koffer liegen“, sagt er, bevor es ihm die Sprache verschlägt. Nach einigen stillen Sekunden fügt er an: „Das alles übersteigt die Vorstellungskraft.“
Die Politiker wollen auch, dass die Jugend sich energisch gegen Antisemitismus einsetzt. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble sagt: „Wenn Sie auf der Straße oder im Bus etwas mitbekommen, dann stehen Sie auf und sagen Sie demjenigen, dass er
Unsinn redet.“Eine Teilnehmerin will wissen, wie Deutschland gegen Rechtsextremismus kämpfen wolle. „Wir haben strafrechtlich in den letzten Jahren viel nachgearbeitet“, sagt Steinmeier. Gleichzeitig räumt er im Hinblick auf die sozialen Medien Lücken ein, die er nach seinem Besuch der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem selber zu spüren bekam: „Ich sehe es ja an den Kommentaren auf meiner Facebook-Seite.“
Rivlin wird lauter, als er erzählt: „Der Faschisten dringen als politische Bewegung überall in Europa wieder in die Systeme ein. Hier in diesem Raum sitzen die Kanzler und Präsidenten der Zukunft. Es liegt in euren Händen, das zu verhindern. Und es muss euch gelingen.“