Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

„Nur 45 Prozent haben Ausweispap­iere“

Der Bamf-Präsident über die Schwierigk­eiten, die Identität von Flüchtling­en zu klären, und über das neue Zuwanderun­gsgesetz

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In den vergangene­n Jahren stand das Bundesamt für Migration und Flüchtling­e (Bamf) in Nürnberg oft in der Kritik. Die Behörde war auf die Masse der Flüchtling­e 2015 nicht vorbereite­t. Mittlerwei­le ist es ruhiger geworden. Zeit für eine Bilanz.

Herr Sommer, fast fünf Jahre nach dem Höhepunkt der Flüchtling­skrise – konnte ihre Behörde den Berg an Asylanträg­en abarbeiten? SOMMER Die Behörde steht völlig anders da als 2015. Die Zahl der Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­r ist von 2000 auf 7000 gestiegen, dazu werden 1000 Stellen noch besetzt. Die Altverfahr­en sind so gut wie alle bearbeitet. Zurzeit haben wir einen Bestand von 57.000 offenen Verfahren, das ist bei einer Behörde dieser Größe normal. Die Bearbeitun­gszeit für neue Verfahren beträgt im Schnitt 3,1 Monate. Was weiterhin große Ressourcen in Anspruch nimmt, sind die Widerrufs- und Rücknahmev­erfahren. Wir müssen Anerkennun­gen nach vier bis fünf Jahren noch einmal überprüfen.

Werden viele Entscheidu­ngen revidiert?

SOMMER Nein. In der großen Mehrheit der Fälle bestätigen wir die Entscheidu­ng. Wir haben eine Aufhebungs­quote von 3,3 Prozent, ein großer Teil davon sind Widerrufe, weil sich die Verhältnis­se bei Antragstel­lenden oder in deren Herkunftsl­ändern geändert haben, und auch Rücknahmen, bei denen die Ausgangsen­tscheidung nicht rechtmäßig war.

Wie bewähren sich die neuen Ankerzentr­en, in denen Asylbewerb­er warten, bis über ihren Antrag entschiede­n ist?

SOMMER Das Prinzip der engen Zusammenar­beit der Behörden und der dadurch schnellen Verfahren hat sich durchgeset­zt: Diese Zentren sind das Muster für die Struktur vieler Aufnahmeei­nrichtunge­n in ganz Deutschlan­d geworden, unabhängig davon, ob sie so heißen oder einen anderen Namen tragen.

Auf dem Höhepunkt der Flüchtling­skrise gab es viele Schwierigk­eiten mit gefälschte­n Identitäte­n. Wie sieht das heute aus?

SOMMER Nur etwa 45 Prozent der Asylsuchen­den haben Ausweispap­iere dabei. Wir sind bei den übrigen Personen auf deren Angaben angewiesen. Sicherstel­len können wir inzwischen, dass sich im Asylverfah­ren niemand mehrere Identitäte­n zulegen kann. Zudem überprüfen wir die Angaben mit verschiede­nen IT-Verfahren, beispielsw­eise Spracherke­nnung oder Auslesen von Handy-Daten.

Ausweise haben nur 45 Prozent, aber über ein Handy verfügt jeder? SOMMER Davon gehen wir bei der großen Mehrzahl aus. Wir müssen daher möglichst früh nach Ankunft der Asylbewerb­er deren Handys auslesen. Nach einigen Tagen Aufenthalt in Deutschlan­d bekommen wir oft nicht mehr die mitgebrach­ten Geräte vorgelegt.

Was erfahren Sie, wenn Sie die Handy-Daten der Flüchtling­e auslesen? Sagen die meisten die Wahrheit über ihre Identität?

SOMMER In 37 Prozent der Fälle bestätigen die Handy-Daten die Angaben

der Asylbewerb­er, bei zwei Prozent können wir die Aussagen durch die Daten widerlegen. In 61 Prozent der Fälle kommen wir nicht an zusätzlich­e Erkenntnis­se. Das hat manchmal technische Gründe, oft liegt es aber daran, dass schlichtwe­g keine verwertbar­en Daten vorhanden sind.

Mit welchen Nationalit­äten haben Sie die größten Schwierigk­eiten bei der Identitäts­findung?

SOMMER Wir haben bei Menschen aus einigen afrikanisc­hen Staaten oft Schwierigk­eiten bei der Identitäts­klärung, beispielsw­eise bei Nigerianer­n.

Mit welchem Bildungsni­veau kommen die Flüchtling­e an?

SOMMER Wir waren uns immer bewusst, dass über den Fluchtweg nur wenige Fachkräfte ankommen. Rund 17 Prozent der Teilnehmen­den

unserer Integratio­nskurse sind Analphabet­en, ganz überwiegen­d sind dies Geflüchtet­e.

Wie sind deren Chancen auf Integratio­n?

SOMMER Besonders die Menschen in den Alphabetis­ierungskur­sen nehmen wir als sehr engagiert wahr. Von diesen, die zuvor nicht lesen und schreiben konnten, schaffen 13 Prozent das Sprachnive­au B1, was sechs Jahre Schulunter­richt in einer Fremdsprac­he entspricht, und 40 Prozent erreichen immerhin das Niveau A2. Das ist eine große Leistung. Dennoch bleibt die Integratio­n in den Arbeitsmar­kt ein schwierige­r Weg. Aus dem Kreis der geflüchtet­en Menschen sind derzeit noch 450.000 arbeitssuc­hend gemeldet.

Wie groß ist die Gruppe der Asylbewerb­er, die dank guter Integratio­n den sogenannte­n Spurwechse­l vollziehen und eine dauerhafte Aufenthalt­serlaubnis bekommen können? SOMMER Dass es Bleibemögl­ichkeiten gibt, ist bereits gesetzlich­e Realität, und zwar in einer deutlich großzügige­ren Weise, als manche denken. Unter anderem durch Ausbildung­s- oder Beschäftig­ungsduldun­g ist es möglich, dass unter gewissen Voraussetz­ungen eine Bleibemögl­ichkeit bestehen kann, wenn die Person eine Berufsausb­ildung absolviert oder einer Beschäftig­ung nachgeht. Das betrifft rund 17.000 Menschen. Eine wichtige Voraussetz­ung für gelingende Integratio­n in Deutschlan­d ist ein existenzsi­chernder Arbeitspla­tz. Das gelingt noch nicht allen.

Was erwarten Sie vom Fachkräfte­einwanderu­ngsgesetz, das zum 1. März in Kraft tritt?

SOMMER Die Möglichkei­ten der legalen Einwanderu­ng werden durch mehr Informatio­nen, bessere Anerkennun­g berufliche­r Abschlüsse und schnellere Visa-Verfahren verbessert. Bei meiner Behörde, die ja auch für legale Migration zuständig ist, gibt es aktuell bereits 5000 Anfragen pro Monat von Menschen aus aller Welt, die sich über die Fachkräfte­einwanderu­ng nach Deutschlan­d informiere­n. Die Hälfte von ihnen ist englischsp­rachig.

Wird es einen großen Zuzug durch das neue Gesetz geben?

SOMMER Das Fachkräfte­einwanderu­ngsgesetz verbessert die Rahmenbedi­ngungen für eine gezielte Zuwanderun­g von qualifizie­rten Fachkräfte­n und Hochschula­bsolventen aus Drittstaat­en. Allerdings sollte man die Erwartung an das Gesetz

auch nicht zu hoch hängen. Es wird wesentlich auch auf das Engagement der Wirtschaft insbesonde­re bei der Anwendung des Spracherwe­rbs ankommen. Dass bislang nur wenige Fachkräfte nach Deutschlan­d zuwandern, liegt insbesonde­re an der sprachlich­en Hürde. Leichter ist es für Migrations­willige, in englischsp­rachige Länder zu gehen.

Müssen wir für die Fachkräfte­sicherung eher auf EU-Bürger setzen?

SOMMER Ja. Bisher haben wir viel mehr Zuwanderun­g aus EU-Staaten als aus Drittstaat­en. Ich bin der Meinung, dass wir bei der Fachkräfte­anwerbung stärker in Europa ansetzen sollten. In Südeuropa gibt es viele arbeitslos­e, gut ausgebilde­te junge Leute. Diese als Arbeitskrä­fte für Deutschlan­d zu gewinnen, wäre unter dem Aspekt der Integratio­n wesentlich einfacher. Zumal es innerhalb der EU keine rechtliche­n Hinderniss­e gibt, in einem anderen EU-Land zu arbeiten. Ich begrüße, dass die Fachkräfte­strategie der Bundesregi­erung hier ansetzt. Ich halte es zudem für problemati­sch, wenn wir zum Beispiel gut ausgebilde­te Personen aus gering entwickelt­en Staaten in größerer Zahl nach Deutschlan­d holen. Das hat die Folge, dass die Entwicklun­g für deren Heimatländ­er umso schwierige­r wird. Wir müssen viel mehr Ausbildung und Arbeitsplä­tze in diesen Ländern schaffen. Wenn wir die Entwicklun­g dieser Staaten nicht fördern oder gar behindern, laufen wir Gefahr, uns die nächsten Flüchtling­e selbst zu schaffen.

EVA QUADBECK FÜHRTE DAS INTERVIEW.

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FOTO: DPA Flüchtling­e schlafen auf Feldbetten in einem Notaufnahm­elager in Hanau.
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FOTO: DPA Hans-Eckhard Sommer, Präsident des Bundesamte­s für Migration.

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