Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Die ewig sprudelnden Steuerquellen
Obwohl die Konjunktur im vergangenen Jahr schwächer wurde, sind die Einnahmen des Staates kräftig gestiegen. Damit hat sich der Trend der Vorjahre fortgesetzt. Doch Ökonomen warnen: Der Geldsegen ist trügerisch.
Schöne Sprüche von Olaf Scholz sind rar, aber dieses Zitat blieb hängen. „Die fetten Jahre sind vorbei“, sagte der Bundesfinanzminister vor einem Jahr. Man glaubte ihm das damals. Schließlich war der fast zehnjährige Konjunkturaufschwung schon Monate zuvor erlahmt. Doch der SPD-Politiker irrte sich: Die Jahre mit fetten Steuerzuwächsen waren doch noch nicht vorbei. Auch im Jahr 2019 gab es wieder ein sattes Einnahmenplus für den Fiskus.
Während die Wirtschaft ihre Leistung nur um 0,6 Prozent steigerte, wuchsen die Einnahmen in der Staatskasse um solide 3,1 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Die nominale Wirtschaftsleistung ohne die Anpassung an die Preisentwicklung nahm mit 2,7 Prozent weniger stark zu als die Steuereinnahmen von Bund, Ländern und Gemeinden. Damit setzte sich ein Trend fort, der spätestens seit der Überwindung der weltweiten Finanzkrise 2009 und 2010 in Deutschland eingesetzt hatte: Die Entwicklung der Steuereinnahmen hat sich von der Konjunkturentwicklung zumindest teilweise entkoppelt. Der Staat strich regelmäßig mehr ein, als er nach der Konjunkturlage eigentlich hätte erwarten dürfen.
Für die Finanzminister war das ein Segen. Zuerst war es Wolfgang Schäuble (CDU), der 2014 erstmals einen ausgeglichenen Bundeshaushalt präsentieren konnte. Auch sein Nachfolger brauchte danach nicht viel zu tun. Die schwarze Null wurde zum Selbstläufer. Olaf Scholz musste nicht sparen, um die Null weiterhin zu garantieren. Wie nebenbei konnte er die Investitionen steigern, soziale Wohltaten wie die Rente mit 63 mitfinanzieren und die Asylrücklage des Bundes füllen. Heute liegen darin fast 50 Milliarden Euro – ein beruhigendes Finanzpolster.
Das Phänomen der scheinbar ewig sprudelnden Steuerquellen lässt sich auch an einer anderen Zahl ablesen, der Steuerquote. 2005, zu Beginn der Ära Merkel, lag der Anteil der Steuereinnahmen am Bruttoinlandsprodukt nach der Rechenmethode der EU noch bei 21,2 Prozent. Im vergangenen Jahr betrug sie bereits 24 Prozent. Das stößt einigen bitter auf. „Der Staat holt sich ein immer größeres Stück vom Kuchen“, beklagt Florian Toncar, der finanzpolitische Sprecher der FDP.
Der wichtigste Grund: Deutschland war es nach der Finanzkrise gelungen, seine Konjunktur auf zwei Beine zu stellen. Nicht mehr nur der Export kurbelte die Wirtschaftsleistung an, sondern zunehmend auch die Inlandsnachfrage. Die strukturellen Reformen unter Kanzler Gerhard Schröder (SPD), das Kurzarbeitergeld während der Finanzkrise und die Lohnzurückhaltung der Gewerkschaften gaben dem Arbeitsmarkt Schwung. Hinzu kamen weltweite Konjunkturpakete, die expansive Geldpolitik der Notenbanken und günstige Wechselkurse. Dadurch stieg die Beschäftigung kräftig, und mit ihr später auch die Löhne und die verfügbaren Einkommen. Der private Konsum legte auch angesichts der geringen Sparzinsen Jahr für Jahr immer kräftiger zu. In den Kassen der Finanzminister und Kämmerer sprudelten die beiden wichtigsten Einnahmequellen, die aus Lohn- und Umsatzsteuer.
Auch 2019 legten beide Steuerarten weiter kräftig zu, wie der Endbericht über die Steuereinnahmen 2019 zeigt. Die Lohnsteuer kletterte um 5,5 Prozent gegenüber dem Vorjahr, die Umsatzsteuer um 3,6 Prozent. „Es ist bemerkenswert, wie stabil sich die Steuereinnahmen 2019 trotz der schwächeren Konjunktur entwickelt haben“, sagt Jens Hogrefe vom Kieler Institut für Weltwirtschaft. Auch der Wohnungsbau brachte dem Fiskus ordentlich Geld ein. „Die Grunderwerbsteuer läuft nahezu wie geschnitten Brot“, so Hogrefe. Der Staat gibt den Steuerzahlern zwar seit einigen Jahren etwas von dem zurück, was er ungerechterweise nur deshalb zusätzlich einnimmt, weil Preise und Löhne steigen. Unter dem Stichwort kalte Progression firmiert das Phänomen, dass die Steuerbelastung automatisch zunimmt, weil viele Arbeitnehmer geringe jährliche Lohnsteigerungen erfahren und dadurch in eine höhere Progressionsstufe rutschen. Dieser negative Effekt der kalten Progression wird zwar neuerdings ausgeglichen, nicht aber der Nachteil, der zusätzlich entsteht, weil auch die Produktivität Jahr für Jahr zunimmt. Was bleibt, ist eine – wenn auch reduzierte – schleichende Enteignung der Steuerzahler.
In der Politik haben die scheinbar ewig sprudelnden Steuerquellen viel Begehr ausgelöst. Die SPD will die Investitionen hochfahren, die kleinen und mittleren Einkommen steuerlich entlasten und neuerdings zusätzlich den geplanten Abbau des Solidaritätszuschlags von 2021 auf Mitte 2020 vorziehen. Die Union zögert noch, ob sie dem zustimmen will, denn sie möchte lieber die Unternehmensteuern senken, weil das auch schon die USA, Frankreich und Großbritannien vorgemacht haben.
Ökonomen raten jedoch zur Vorsicht. Der jahrelange Steuersegen sei trügerisch, mahnen sie. Eine Krise wie die von 2009 könne immer wiederkehren, und deshalb sei ein solides Finanzpolster wie die gut gefüllte Asylrücklage von Olaf Scholz sehr ratsam. Zudem werde ab Mitte der 20er Jahre die Demografie gnadenlos zuschlagen: Dann schrumpft die Erwerbsbevölkerung auf einen Schlag, weil viele Babyboomer in Rente gehen und zu wenig Jüngere nachkommen werden. Auch Rentner zahlen zwar zunehmend Steuern, aber unter dem Strich viel weniger als Arbeitnehmer. Gleichzeitig würden wegen der Alterung die Renten-, Gesundheitsund Sozialausgaben in Zukunft deutlich steigen. Die Steuerlast werde zwangsläufig zunehmen müssen.
„Wir sollten uns bewusst sein, dass diese gute Lage nicht von Dauer sein wird“, warnt Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung. Deutschland lebe in wirtschaftlich „goldenen Zeiten“. Noch.
„Wir sollten uns bewusst sein, dass diese gute Lage nicht von Dauer sein wird“
Marcel Fratzscher Institut für Wirtschaftsfoschung