Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Die FDP hadert mit ihrem Vorsitzenden
Wenn der Vorsitzende die Vertrauensfrage stellt und sich Abgeordnete für ihre Partei schämen, sind das Zeichen dafür, wie ernst die Lage des Liberalismus ist.
BERLIN Für FDP-Chef Christian Lindner sind die Fragen vom Anfang der Woche gefühlte Lichtjahre entfernt seit dem Fiasko von Erfurt. Es geht nicht mehr darum, wann er seine Partei in die Bundesregierung führt, wie er die Liberalen in der Klimapolitik attraktiv macht oder ob er in den Umfragen die Zweistelligkeit erreicht. Es geht nur noch darum, ob er das endgültige Aus für die FDP noch abwenden kann. Der Porsche-Fahrer hat einen Totalschaden gebaut. Die für diesen Freitag angekündigte Vertrauensfrage, die er dem Parteivorstand in einer eiligst einberufenen Sondersitzung vorlegen will, wird ihm nur die Frage beantworten, ob er selbst aus den Trümmern noch lebend herausgekommen ist. Das Schicksal der FDP ist noch ungeklärt – und bringt die Basis auf den Baum.
Den Ernst der Lage und die Stimmung in Lindners Fraktion spiegelt ein Tweet des Bundestagsabgeordneten Thomas Sattelberger wider: „Schäme mich für meine FDP.“Es ist genau das Gefühl, das Lindner 2013 aufgriff, um alles zum Guten zu wenden. Weil sich viele FDP-Politiker damals dafür schämten, wie sie sich im Bundestagswahlkampf zum Anhängsel der CDU hatten degradieren lassen und deswegen erstmals in der Parteigeschichte aus dem Parlament geworfen wurden, baute Lindner systematisch an dem Projekt „neues Vertrauen für eine neue FDP“.
Nicht mehr die Parteitaktik an die erste Stelle, keine Egoismen mehr, bloß nicht wieder den Verdacht aufkommen lassen, Regierungsbeteiligung komme bei den Liberalen vor Inhalten. Deshalb hatte Christian Lindner 2017 die Jamaika-Verhandlungen gesprengt und den Machtverzicht auf die Formel gebracht „Besser nicht regieren als falsch regieren.“
All diese Aufbauarbeit in sieben aufreibenden Jahren, all dieses unermüdliche Feilen an einem neuen Image, all diese beharrliche neue Beständigkeit bei sieben bis neun Prozent in den Sonntagsfragen hat FDP-Landeschef Thomas Kemmerich
in fünf Worten und drei Sekunden zerstört: „Ich nehme die Wahl an.“Der Tabubruch, sich von der AfD ins Amt des Thüringer Regierungschefs katapultieren lassen, er hat auch Lindners Projekt, ja die ganze FDP in den Strudel des Untergangs gesogen. Wer kann der FDP jetzt ihre größtmögliche Distanz zur AfD noch glauben? Wie kann Lindner persönlich eigene Glaubwürdigkeit zurückgewinnen, wo er doch noch vor kurzem im Interview mit unserer Redaktion klar gemacht hatte: „Ich glaube, dass jede demokratische Partei ihre Seele verliert, wenn sie mit der AfD in irgendeiner Form kooperiert.“Und dann ist er höchstpersönlich an den Überlegungen von Kemmerich hinter den Kulissen beteiligt.
Noch am Tag des Skandals wand er sich pflaumenweich in einer ersten Stellungnahme, nannte es „überraschend“, dass sein Parteifreund von der AfD unterstützt worden sei. Bald begannen Bruchstücke von Informationen über die Einbindung Lindners ein Bild zu formen. Hat er grünes Licht für den Tabubruch gegeben? Das habe der Landesverband
entschieden, sagt Kemmerich. Die Wucht der Reaktionen lässt Lindner eiligst an einer Brandmauer bauen. In der Parteizentrale wird geprüft, ob man Kemmerich aus der FDP ausschließen könne, wenn er so weitermache. Lindner fährt nach Erfurt, bringt Kemmerich zur Ankündigung seines Rücktritts. Er soll ihn auch mit der Drohung seines eigenen Rücktritts als Parteichef unter Druck gesetzt haben. Dass Kemmerich das Amt annehme, sei für ihn „zu keinem Zeitpunkt erkennbar“gewesen, so Lindner.
Da hat sich auch der innerparteiliche Groll bereits in seine Richtung verschoben. Der Chef der Jungen Liberalen in NRW, Jens Teutrine, hätte von ihm erwartet, dass Lindner schneller, klar und öffentlich den Rücktritt Kemmerichs fordert. „Das ist weder eine Einzel-Entscheidung des Landesverbands Thüringen noch geht es ausschließlich um das Bundesland Thüringen, sondern es geht um die Glaubwürdigkeit der gesamten FDP und um demokratische Grundwerte“, sagte Teutrine unserer Redaktion.
Ähnlich äußerte sich NRW-Schulministerin
Yvonne Gebauer (FDP): Der Fehler von Erfurt habe korrigiert werden müssen. Die AfD sei ein politischer Gegner, das beweise sie jede Woche aufs Neue durch ihre Initiativen und Vorstöße in den Parlamenten. Scharfe Kritik übt auch der frühere Bundesinnenminister Gerhart Baum (FDP): „Christian Lindner hätte sich klar positionieren müssen – so, wie es die FDP in Nordrhein-Westfalen getan hat“. Lindner habe hingegen keine wirksame Schadensbegrenzung betrieben und im Vorfeld nicht alles unternommen, um seinen Parteikollegen in Thüringen an der Kandidatur für das Amt des Ministerpräsidenten zu hindern. „Die Gefahr lag in der Luft“, so Baum. Nicht einmal in taktischer Hinsicht habe Lindner etwas gewonnen: „Er steht nun vor einer zerrissenen Partei“.
Die Äußerungen zeigen, wie sehr sich die FDP in NRW, die Lindner einst ganz auf sich zugeschnitten hatte, inzwischen von der Bundespartei emanzipiert hat. Insbesondere in Fragen der Migrationspolitik waren in den vergangenen Wochen immer wieder Differenzen zwischen
NRW-Integrationsminister Joachim Stamp (FDP) und Lindner erkennbar geworden. So etwa, als es um die Frage der Grenzschließungen ging. Stamp hatte sich auch in der Thüringen-Krise klar anders positioniert als Lindner, als er bereits am selben Tag den Rücktritt Kemmerichs forderte.
An der FDP-Basis in NRW hagelte es ebenfalls Kritik. Wolfgang Lochner, FDP-Kreisvorsitzender in Viersen, sagte: „Die Wahl des FDP-Landtagsabgeordneten Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten von Thüringen ist sowohl für die Demokratie als auch für unsere FDP ein Desaster!“Die FDP in Remscheid ist „nach wie vor fassungslos und erschrocken“. Viele FDP-Politiker an der Basis fürchten nun Nachteile für die Kommunalwahlen im September. Erste Parteimitglieder veröffentlichten Fotos in den sozialen Medien, die dokumentieren, wie sie sich von ihrer Parteizugehörigkeit distanzieren. Der frühere WDR-Journalist Horst Kläuser etwa stellte ein Twitter-Video ins Netz, das zeigt, wie er seinen FDP-Mitgliedsausweis zerschneidet.