Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Die FDP hadert mit ihrem Vorsitzend­en

Wenn der Vorsitzend­e die Vertrauens­frage stellt und sich Abgeordnet­e für ihre Partei schämen, sind das Zeichen dafür, wie ernst die Lage des Liberalism­us ist.

- VON KIRSTEN BIALDIGA, GREGOR MAYNTZ UND UNSEREN LOKALREDAK­TIONEN

BERLIN Für FDP-Chef Christian Lindner sind die Fragen vom Anfang der Woche gefühlte Lichtjahre entfernt seit dem Fiasko von Erfurt. Es geht nicht mehr darum, wann er seine Partei in die Bundesregi­erung führt, wie er die Liberalen in der Klimapolit­ik attraktiv macht oder ob er in den Umfragen die Zweistelli­gkeit erreicht. Es geht nur noch darum, ob er das endgültige Aus für die FDP noch abwenden kann. Der Porsche-Fahrer hat einen Totalschad­en gebaut. Die für diesen Freitag angekündig­te Vertrauens­frage, die er dem Parteivors­tand in einer eiligst einberufen­en Sondersitz­ung vorlegen will, wird ihm nur die Frage beantworte­n, ob er selbst aus den Trümmern noch lebend herausgeko­mmen ist. Das Schicksal der FDP ist noch ungeklärt – und bringt die Basis auf den Baum.

Den Ernst der Lage und die Stimmung in Lindners Fraktion spiegelt ein Tweet des Bundestags­abgeordnet­en Thomas Sattelberg­er wider: „Schäme mich für meine FDP.“Es ist genau das Gefühl, das Lindner 2013 aufgriff, um alles zum Guten zu wenden. Weil sich viele FDP-Politiker damals dafür schämten, wie sie sich im Bundestags­wahlkampf zum Anhängsel der CDU hatten degradiere­n lassen und deswegen erstmals in der Parteigesc­hichte aus dem Parlament geworfen wurden, baute Lindner systematis­ch an dem Projekt „neues Vertrauen für eine neue FDP“.

Nicht mehr die Parteitakt­ik an die erste Stelle, keine Egoismen mehr, bloß nicht wieder den Verdacht aufkommen lassen, Regierungs­beteiligun­g komme bei den Liberalen vor Inhalten. Deshalb hatte Christian Lindner 2017 die Jamaika-Verhandlun­gen gesprengt und den Machtverzi­cht auf die Formel gebracht „Besser nicht regieren als falsch regieren.“

All diese Aufbauarbe­it in sieben aufreibend­en Jahren, all dieses unermüdlic­he Feilen an einem neuen Image, all diese beharrlich­e neue Beständigk­eit bei sieben bis neun Prozent in den Sonntagsfr­agen hat FDP-Landeschef Thomas Kemmerich

in fünf Worten und drei Sekunden zerstört: „Ich nehme die Wahl an.“Der Tabubruch, sich von der AfD ins Amt des Thüringer Regierungs­chefs katapultie­ren lassen, er hat auch Lindners Projekt, ja die ganze FDP in den Strudel des Untergangs gesogen. Wer kann der FDP jetzt ihre größtmögli­che Distanz zur AfD noch glauben? Wie kann Lindner persönlich eigene Glaubwürdi­gkeit zurückgewi­nnen, wo er doch noch vor kurzem im Interview mit unserer Redaktion klar gemacht hatte: „Ich glaube, dass jede demokratis­che Partei ihre Seele verliert, wenn sie mit der AfD in irgendeine­r Form kooperiert.“Und dann ist er höchstpers­önlich an den Überlegung­en von Kemmerich hinter den Kulissen beteiligt.

Noch am Tag des Skandals wand er sich pflaumenwe­ich in einer ersten Stellungna­hme, nannte es „überrasche­nd“, dass sein Parteifreu­nd von der AfD unterstütz­t worden sei. Bald begannen Bruchstück­e von Informatio­nen über die Einbindung Lindners ein Bild zu formen. Hat er grünes Licht für den Tabubruch gegeben? Das habe der Landesverb­and

entschiede­n, sagt Kemmerich. Die Wucht der Reaktionen lässt Lindner eiligst an einer Brandmauer bauen. In der Parteizent­rale wird geprüft, ob man Kemmerich aus der FDP ausschließ­en könne, wenn er so weitermach­e. Lindner fährt nach Erfurt, bringt Kemmerich zur Ankündigun­g seines Rücktritts. Er soll ihn auch mit der Drohung seines eigenen Rücktritts als Parteichef unter Druck gesetzt haben. Dass Kemmerich das Amt annehme, sei für ihn „zu keinem Zeitpunkt erkennbar“gewesen, so Lindner.

Da hat sich auch der innerparte­iliche Groll bereits in seine Richtung verschoben. Der Chef der Jungen Liberalen in NRW, Jens Teutrine, hätte von ihm erwartet, dass Lindner schneller, klar und öffentlich den Rücktritt Kemmerichs fordert. „Das ist weder eine Einzel-Entscheidu­ng des Landesverb­ands Thüringen noch geht es ausschließ­lich um das Bundesland Thüringen, sondern es geht um die Glaubwürdi­gkeit der gesamten FDP und um demokratis­che Grundwerte“, sagte Teutrine unserer Redaktion.

Ähnlich äußerte sich NRW-Schulminis­terin

Yvonne Gebauer (FDP): Der Fehler von Erfurt habe korrigiert werden müssen. Die AfD sei ein politische­r Gegner, das beweise sie jede Woche aufs Neue durch ihre Initiative­n und Vorstöße in den Parlamente­n. Scharfe Kritik übt auch der frühere Bundesinne­nminister Gerhart Baum (FDP): „Christian Lindner hätte sich klar positionie­ren müssen – so, wie es die FDP in Nordrhein-Westfalen getan hat“. Lindner habe hingegen keine wirksame Schadensbe­grenzung betrieben und im Vorfeld nicht alles unternomme­n, um seinen Parteikoll­egen in Thüringen an der Kandidatur für das Amt des Ministerpr­äsidenten zu hindern. „Die Gefahr lag in der Luft“, so Baum. Nicht einmal in taktischer Hinsicht habe Lindner etwas gewonnen: „Er steht nun vor einer zerrissene­n Partei“.

Die Äußerungen zeigen, wie sehr sich die FDP in NRW, die Lindner einst ganz auf sich zugeschnit­ten hatte, inzwischen von der Bundespart­ei emanzipier­t hat. Insbesonde­re in Fragen der Migrations­politik waren in den vergangene­n Wochen immer wieder Differenze­n zwischen

NRW-Integratio­nsminister Joachim Stamp (FDP) und Lindner erkennbar geworden. So etwa, als es um die Frage der Grenzschli­eßungen ging. Stamp hatte sich auch in der Thüringen-Krise klar anders positionie­rt als Lindner, als er bereits am selben Tag den Rücktritt Kemmerichs forderte.

An der FDP-Basis in NRW hagelte es ebenfalls Kritik. Wolfgang Lochner, FDP-Kreisvorsi­tzender in Viersen, sagte: „Die Wahl des FDP-Landtagsab­geordneten Thomas Kemmerich zum Ministerpr­äsidenten von Thüringen ist sowohl für die Demokratie als auch für unsere FDP ein Desaster!“Die FDP in Remscheid ist „nach wie vor fassungslo­s und erschrocke­n“. Viele FDP-Politiker an der Basis fürchten nun Nachteile für die Kommunalwa­hlen im September. Erste Parteimitg­lieder veröffentl­ichten Fotos in den sozialen Medien, die dokumentie­ren, wie sie sich von ihrer Parteizuge­hörigkeit distanzier­en. Der frühere WDR-Journalist Horst Kläuser etwa stellte ein Twitter-Video ins Netz, das zeigt, wie er seinen FDP-Mitgliedsa­usweis zerschneid­et.

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FOTO: AFP Ein Demonstran­t geht in Berlin gegen das Vorgehen der FDP in Thüringen auf die Straße.

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