Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Weimar, die deutsche Warnung
Die Vorgänge in Thüringen irritieren zutiefst. Doch sie markieren noch nicht den Rückfall in unheilvolle Zeiten. Wer Björn Höcke von der AfD mit Hitler vergleicht, macht die deutsche Demokratie schwächer, als sie ist.
Schon wieder Weimar. Ein Hauch davon hänge über dem Land, orakelte in diesen Tagen nicht nur der Altliberale Gerhart Baum angesichts des politischen Knalls, der sich am Mittwoch etwa 24 Kilometer westlich von Weimar, in Erfurt, ereignet hat. Weimar bezeichnet bis heute mehr als einen beschaulichen Ort in Thüringen, und Gerhart Baum, Jahrgang 1932, ist besonders berufen, Weimar, diese deutsche Warnung, auszusprechen. Zwar hat er die politischen Wirren der Republik, die diesen Namen trägt, selbst nicht erlebt, wohl aber das, was darauf folgte: die Diktatur des Nationalsozialismus, den
Ruin und Untergang des Staates, das Menschheitsverbrechen des Holocaust.
Ist es wieder so weit? Steuern wir auf Weimarer Verhältnisse zu, weil die Bindungskraft der bürgerlichen Parteien erlahmt und die Ränder erstarken? Wiegen wir uns in falscher Sicherheit, wie so viele Deutsche von damals, die zu lange auf die Kraft der Parteien der Mitte vertrauten, mit deren solider Mehrheit ihre erste parlamentarische Demokratie 1919 gestartet war?
In Thüringen wurden Fehler begangen, die hanebüchen sind. Die Erschütterung darüber aber darf den Blick auf die Lage nicht verstellen. Ein Hauch von Weimar liegt über der Bundesrepublik Deutschland, seit es sie gibt. Denn diese Republik ist nicht denkbar ohne jene vorherige, die schließlich scheiterte. Auf die alte Frage, ob sich Geschichte wiederhole, traut sich niemand, eine abschließende Antwort zu geben, aber ein paar Gewissheiten darf man hervorheben.
Eine davon lautet, dass wir das Ende von Weimar kennen. Bonn wurde der Gegenentwurf, damit sich Geschichte eben nicht wiederholt. Wir sind schon deswegen nicht Weimar, weil wir Weimar durchgemacht haben. Und weil sich aus der Geschichte lernen lässt.
„Ich bin der Meinung, dass es nicht zum Begriff der Demokratie gehört, dass sie selber die Voraussetzungen für ihre Beseitigung schafft.“So skizzierte 1948 der Sozialdemokrat Carlo Schmid das neue Prinzip der abwehrbereiten, der wehrhaften Demokratie. Schmid war eine Schlüsselfigur des Parlamentarischen Rates, der das Grundgesetz ausarbeitete. Und diese Verfassung sieht tatsächlich Maßnahmen zum Schutz der freiheitlichen Grundordnung vor, welche die Weimarer Republik nicht kannte.
Der überstarke Präsident, die schwache Regierung, deren Mitglieder der Reichstag einzeln per Misstrauensvotum „abschießen“konnte, ohne Nachfolger zu wählen, das heikle Instrument des nationalen Referendums, zudem die unheilvollen Notverordnungen, die dem Präsidenten breiten antiparlamentarischen Spielraum eröffneten – all das waren Webfehler der Weimarer Reichsverfassung, die das Grundgesetz korrigiert hat. In ihrer Kombination erleichterten sie es Hitler, an die Macht zu kommen.
Aber auch erst in ihrer Kombination. Genauso ist es mit dem Scheitern der Weimarer Republik insgesamt, auf das die Historiker heute einen sehr differenzierten Blick haben. Die erste deutsche Demokratie war keine Totgeburt. Im Gegenteil: In der zweiten Hälfte der 20er Jahre, nach einem halben Jahrzehnt Kampf und Krampf, erlebte sie einen geradezu wundersamen Erfolg. Dass er sich als Scheinblüte erwies, lag an einer Reihe von Faktoren, die zusammen erst Weimar scheitern ließen.
Da war die bereits erwähnte Verfassung. Da waren die Eliten, die den Staat hätten tragen müssen, die ihn aber zu beträchtlichen Teilen ablehnten – Richter und Beamte seien stellvertretend genannt. Da waren die bürgerlichen Politiker, die sich Hitler entweder dienstbar machen wollten oder ihn schlicht nicht ernst nahmen oder beides. Da war die Verschwörung der Extremisten, das „System“von Weimar zu stürzen. Da war eine verheerende Wirtschaftskrise, und vor und über allem ein verlorener Krieg, die wohl größte Hypothek, aus der viele der anderen Belastungen erst entstanden.
Von diesem Katalog bleibt heute nicht viel; innenpolitisch bleibt von ihm nichts. Es mag plausibel klingen, von Erosion der Mitte zu sprechen, wenn Union und SPD mit Not noch auf 40 Prozent kommen, aber gerade in Thüringen ist die Linke eben keine systemgefährdende Partei, sondern eher so etwas wie die SPD vor 30 Jahren. Internationale Krisen, die gibt es sehr wohl; aber die Unbilden der Weltpolitik sind weit davon entfernt, der bundesrepublikanischen Verfasstheit substanziell etwas anzutun.
Aber ist nicht Thomas Kemmerich mithilfe des Faschisten Björn Höcke an die Macht gekommen? Legitimiert nicht spätestens das die deutsche Warnung: Weimar? Man darf, wie Äpfel mit Birnen, Erfurt mit Weimar und Höcke mit Hitler vergleichen. Es mag politisch wirkungsvoll sein, historisch führt es in die Irre. (Schon der Vergleich der Handschlagfotos Kemmerich-Höcke und Hindenburg-Hitler war ja schief: 2020 half der Extremist dem Etablierten in den Sattel, 1933 war es umgekehrt.) Wer Höcke mit Hitler vergleicht, der macht die deutsche Demokratie schwächer, als sie ist. Vor allem aber erweist er der Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus einen schlechten Dienst. In der AfD-Zentrale wird allerhand Widerwärtiges, Verfassungsfeindliches ersonnen, aber kein neuer Holocaust, auch kein Eroberungskrieg.
Auch wenn man Höcke einen Faschisten nennen darf und seine Partei in Teilen rechtsextrem ist: Die AfD gehört eher in die Reihe Orbán, Trump, Putin als Hitler, Goebbels, Göring. Das ist schlimm genug, und man muss es immer wieder sagen — die Demokratie ist auch durch solche Gestalten gefährdet. An Auschwitz zu erinnern und daran, wie es möglich wurde, ist derzeit nötiger denn je. Trotzdem steht nicht die zweite Machtergreifung vor der Tür. Unsere Demokratie ist stärker als ihre Feinde. Und viel stärker als die von Weimar.
Das Grundgesetz hat viele Webfehler der Weimarer Verfassung korrigiert