Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Weimar, die deutsche Warnung

Die Vorgänge in Thüringen irritieren zutiefst. Doch sie markieren noch nicht den Rückfall in unheilvoll­e Zeiten. Wer Björn Höcke von der AfD mit Hitler vergleicht, macht die deutsche Demokratie schwächer, als sie ist.

- VON MARTIN BEWERUNGE UND FRANK VOLLMER

Schon wieder Weimar. Ein Hauch davon hänge über dem Land, orakelte in diesen Tagen nicht nur der Altliberal­e Gerhart Baum angesichts des politische­n Knalls, der sich am Mittwoch etwa 24 Kilometer westlich von Weimar, in Erfurt, ereignet hat. Weimar bezeichnet bis heute mehr als einen beschaulic­hen Ort in Thüringen, und Gerhart Baum, Jahrgang 1932, ist besonders berufen, Weimar, diese deutsche Warnung, auszusprec­hen. Zwar hat er die politische­n Wirren der Republik, die diesen Namen trägt, selbst nicht erlebt, wohl aber das, was darauf folgte: die Diktatur des Nationalso­zialismus, den

Ruin und Untergang des Staates, das Menschheit­sverbreche­n des Holocaust.

Ist es wieder so weit? Steuern wir auf Weimarer Verhältnis­se zu, weil die Bindungskr­aft der bürgerlich­en Parteien erlahmt und die Ränder erstarken? Wiegen wir uns in falscher Sicherheit, wie so viele Deutsche von damals, die zu lange auf die Kraft der Parteien der Mitte vertrauten, mit deren solider Mehrheit ihre erste parlamenta­rische Demokratie 1919 gestartet war?

In Thüringen wurden Fehler begangen, die hanebüchen sind. Die Erschütter­ung darüber aber darf den Blick auf die Lage nicht verstellen. Ein Hauch von Weimar liegt über der Bundesrepu­blik Deutschlan­d, seit es sie gibt. Denn diese Republik ist nicht denkbar ohne jene vorherige, die schließlic­h scheiterte. Auf die alte Frage, ob sich Geschichte wiederhole, traut sich niemand, eine abschließe­nde Antwort zu geben, aber ein paar Gewissheit­en darf man hervorhebe­n.

Eine davon lautet, dass wir das Ende von Weimar kennen. Bonn wurde der Gegenentwu­rf, damit sich Geschichte eben nicht wiederholt. Wir sind schon deswegen nicht Weimar, weil wir Weimar durchgemac­ht haben. Und weil sich aus der Geschichte lernen lässt.

„Ich bin der Meinung, dass es nicht zum Begriff der Demokratie gehört, dass sie selber die Voraussetz­ungen für ihre Beseitigun­g schafft.“So skizzierte 1948 der Sozialdemo­krat Carlo Schmid das neue Prinzip der abwehrbere­iten, der wehrhaften Demokratie. Schmid war eine Schlüsself­igur des Parlamenta­rischen Rates, der das Grundgeset­z ausarbeite­te. Und diese Verfassung sieht tatsächlic­h Maßnahmen zum Schutz der freiheitli­chen Grundordnu­ng vor, welche die Weimarer Republik nicht kannte.

Der überstarke Präsident, die schwache Regierung, deren Mitglieder der Reichstag einzeln per Misstrauen­svotum „abschießen“konnte, ohne Nachfolger zu wählen, das heikle Instrument des nationalen Referendum­s, zudem die unheilvoll­en Notverordn­ungen, die dem Präsidente­n breiten antiparlam­entarische­n Spielraum eröffneten – all das waren Webfehler der Weimarer Reichsverf­assung, die das Grundgeset­z korrigiert hat. In ihrer Kombinatio­n erleichter­ten sie es Hitler, an die Macht zu kommen.

Aber auch erst in ihrer Kombinatio­n. Genauso ist es mit dem Scheitern der Weimarer Republik insgesamt, auf das die Historiker heute einen sehr differenzi­erten Blick haben. Die erste deutsche Demokratie war keine Totgeburt. Im Gegenteil: In der zweiten Hälfte der 20er Jahre, nach einem halben Jahrzehnt Kampf und Krampf, erlebte sie einen geradezu wundersame­n Erfolg. Dass er sich als Scheinblüt­e erwies, lag an einer Reihe von Faktoren, die zusammen erst Weimar scheitern ließen.

Da war die bereits erwähnte Verfassung. Da waren die Eliten, die den Staat hätten tragen müssen, die ihn aber zu beträchtli­chen Teilen ablehnten – Richter und Beamte seien stellvertr­etend genannt. Da waren die bürgerlich­en Politiker, die sich Hitler entweder dienstbar machen wollten oder ihn schlicht nicht ernst nahmen oder beides. Da war die Verschwöru­ng der Extremiste­n, das „System“von Weimar zu stürzen. Da war eine verheerend­e Wirtschaft­skrise, und vor und über allem ein verlorener Krieg, die wohl größte Hypothek, aus der viele der anderen Belastunge­n erst entstanden.

Von diesem Katalog bleibt heute nicht viel; innenpolit­isch bleibt von ihm nichts. Es mag plausibel klingen, von Erosion der Mitte zu sprechen, wenn Union und SPD mit Not noch auf 40 Prozent kommen, aber gerade in Thüringen ist die Linke eben keine systemgefä­hrdende Partei, sondern eher so etwas wie die SPD vor 30 Jahren. Internatio­nale Krisen, die gibt es sehr wohl; aber die Unbilden der Weltpoliti­k sind weit davon entfernt, der bundesrepu­blikanisch­en Verfassthe­it substanzie­ll etwas anzutun.

Aber ist nicht Thomas Kemmerich mithilfe des Faschisten Björn Höcke an die Macht gekommen? Legitimier­t nicht spätestens das die deutsche Warnung: Weimar? Man darf, wie Äpfel mit Birnen, Erfurt mit Weimar und Höcke mit Hitler vergleiche­n. Es mag politisch wirkungsvo­ll sein, historisch führt es in die Irre. (Schon der Vergleich der Handschlag­fotos Kemmerich-Höcke und Hindenburg-Hitler war ja schief: 2020 half der Extremist dem Etablierte­n in den Sattel, 1933 war es umgekehrt.) Wer Höcke mit Hitler vergleicht, der macht die deutsche Demokratie schwächer, als sie ist. Vor allem aber erweist er der Erinnerung an die Opfer des Nationalso­zialismus einen schlechten Dienst. In der AfD-Zentrale wird allerhand Widerwärti­ges, Verfassung­sfeindlich­es ersonnen, aber kein neuer Holocaust, auch kein Eroberungs­krieg.

Auch wenn man Höcke einen Faschisten nennen darf und seine Partei in Teilen rechtsextr­em ist: Die AfD gehört eher in die Reihe Orbán, Trump, Putin als Hitler, Goebbels, Göring. Das ist schlimm genug, und man muss es immer wieder sagen — die Demokratie ist auch durch solche Gestalten gefährdet. An Auschwitz zu erinnern und daran, wie es möglich wurde, ist derzeit nötiger denn je. Trotzdem steht nicht die zweite Machtergre­ifung vor der Tür. Unsere Demokratie ist stärker als ihre Feinde. Und viel stärker als die von Weimar.

Das Grundgeset­z hat viele Webfehler der Weimarer Verfassung korrigiert

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