Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Der Aufruhr von Erfurt
Das Thüringer Wahlchaos hat nicht nur CDU-Landeschef Mohring erfasst, auch die Parteivorsitzende Kramp-Karrenbauer wankt.
BERLIN Die Nacht war kurz. Mike Mohring hat eine Stunde geschlafen. Bis ein Uhr morgens war ein Gast aus Berlin in Erfurt: CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer. Bis 2.30 Uhr habe die CDU-Landtagsfraktion allein weiter beraten. Mohring selbst hat dann nach eigenen Worten noch bis 4 Uhr morgens „gearbeitet“. Danach Kurzschlaf. Duschen. Und dann auf nach Berlin zur Sondersitzung des CDU-Präsidiums. Jetzt steht Mohring in der kalten Luft vor dem Konrad-Adenauer-Haus und sagt: „Ich habe vor einem Tsunami gewarnt, wenn jemand gewählt wird mit den Stimmen der AfD.“
Jetzt ist dieser politische Tsunami über Erfurt, über Berlin, gewissermaßen über die gesamte Parteienlandschaft hereingebrochen. Kramp-Karrenbauer und Mohring sind seit Mittwoch, als CDU und FDP mit den Stimmen der teils rechtsradikalen AfD den FDP-Politiker Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten von Thüringen gewählt haben, mit der Begutachtung des Schadens befasst. Er ist großflächig, wie bei einem Tsunami üblich. Mohring wie Kramp-Karrenbauer laufen im übertragenen Sinne Gefahr, ihre Häuser zu verlieren.
In Erfurt sind Teile der Fraktion verstimmt wegen Mohrings Führungsstil: angeblich zu viele „unabgestimmte Alleingänge“. In Berlin sieht sich die CDU-Chefin in dieser Woche beinahe täglich mit der Frage konfrontiert, ob sie noch die Kraft habe, die Partei zusammenzuhalten. CDU-Vize Armin Laschet nimmt sie zumindest an dieser Stelle vor dem Vorwurf in Schutz, sie habe einen widerspenstigen Landesverband nicht bändigen können: „Sie (Kramp-Karrenbauer) bestimmt nicht, wer wo Vorsitzender ist. Das kann kein Bundesvorsitzender.“Schon ist aber die Rede davon, dass auch die Macht von Bundeskanzlerin Angela Merkel erodieren könnte, weil Kramp-Karrenbauer als CDU-Chefin das Vakuum, das Merkel hinterlassen habe, nicht fülle. Die Chancen der Saarländerin auf eine Kanzlerkandidatur dürften mit dieser Woche weiter gesunken sein. Auch Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble, der Grandseigneur der CDU, ist alarmiert angesichts der Tsunamiwellen, die von Thüringen ausgehen und sogar das politische System bedrohen könnten. „Die parteipolitischen Querelen und die Fixierung auf Personaldebatten, die jetzt wieder angestrengt werden, helfen niemandem“, warnt Schäuble. „Sie dürfen vor allem nicht davon ablenken, wie leichtfertig gewählte Repräsentanten im Thüringer Landtag mit unserem politischen System und seinen Institutionen gespielt haben. Alle Seiten stehen jetzt in der Pflicht, anstelle parteipolitischer Ränke ihre staatspolitische Verantwortung zu übernehmen, damit die parlamentarische Demokratie nicht weiter Schaden nimmt.“Auch seiner Partei redet Schäuble ins Gewissen: „Mit einer Partei, die sich von Rechtsextremisten nicht klar abgrenzt, gibt es für Christdemokraten keine Zusammenarbeit, weder in direkter noch in indirekter Form. Die Umstände in Thüringen zeigen, dass jedes Blinzeln nach Rechtsaußen der Union schadet.“
Kramp-Karrenbauer hat ebenfalls nur wenige Stunden geschlafen. Die CDU-Chefin ist seit vier Tagen im Dauerkrisen-Modus. Das Wahlchaos in Erfurt hat auch sie erfasst, weil ihr vorgehalten wird, sie habe es nicht geschafft, die Landes-CDU auf Linie zu bringen. Keine Koalition oder Kooperation mit der AfD, so war es in der Bundes-CDU beschlossen, doch die Thüringer haben sich nicht daran gehalten.
Soeben hat das CDU-Präsidium seine Sondersitzung in Berlin beendet. Laschet verlässt am Freitag ohne jeden Kommentar die Parteizentrale. Am Morgen noch hatte der NRW-Ministerpräsident im Frühstücksfernsehen eine direkte Antwort auf die Frage vermieden, ob die eigene Parteivorsitzende noch genügend Autorität habe, was auch schon ein Statement ist. Kramp-Karrenbauer bringt die Parteispitze an diesem Freitag erst einmal hinter sich. „Ich trage die Verantwortung für die CDU. Darum habe ich mich in den letzten Wochen und Monaten bis in die letzte Nacht sehr intensiv gekümmert. Das Präsidium hat diesen Kurs ja auch eindrücklich mitgetragen“, sagt sie.
Einstimmig. Immerhin. Das bedeutet auch: Landeschef Mohring, der Mitglied im Präsidium ist, hat zugestimmt. Zu dem jüngsten Beschluss zählt: „Es gibt keine Zusammenarbeit mit der AfD – weder in direkter noch in indirekter Form.“Außerdem: Keine Stimme der CDU für einen Kandidaten der AfD oder der Linkspartei – und auch keine Stimme der CDU „für einen Kandidaten, der auf Stimmen der AfD angewiesen ist“. Zudem plädiert das CDU-Präsidium in Berlin für eine Neuwahl in Thüringen, wogegen sich die Landtagsfraktion weiter sperrt. Auch CDU-Vize Laschet ist übrigens gegen eine Neuwahl.
Mohring steht nun unter Druck. In der Landtagsfraktion nachts zuvor habe er bereits seinen Rücktritt von der Fraktionsspitze in Aussicht gestellt, bestätigt Kramp-Karrenbauer auf Nachfrage. Er habe nicht mehr ausreichend Rückhalt, binde Abgeordnete zu wenig in seine Entscheidungen ein, heißt es in der Landtagsfraktion.
Es läuft sehr viel durcheinander in diesen Tagen bei der CDU. Weiß die Bundes-CDU noch, was ein Landesverband entscheidet? Mohring, der sich vor der Landtagswahl Hoffnungen auf einen weiteren Aufstieg
machen durfte, erlebt jetzt, wie sein Stern sinkt. Die Rolle des alleinigen Sündenbocks in der CDU für das Wahlchaos von Erfurt will er aber nicht übernehmen. Er habe von sich aus am vergangenen Wochenende und somit vor der Wahl im Landtag das Gespräch mit Kramp-Karrenbauer gesucht, erzählt Mohring in Berlin. Will heißen: Die CDU-Chefin sei sehr wohl informiert gewesen. Kramp-Karrenbauer wiederum betont, auch Merkel habe mit Mohring das Verfahren abgesprochen.
Also alle mit drin im schmuddeligen FDP-CDU-AfD-KandidatenBoot. Dabei sei klar gewesen: Die CDU werde im Landtag keinen eigenen Kandidaten stellen, um sich erst gar nicht von der AfD abhängig zu machen. Außerdem sei verabredet worden, dass die CDU sich der Stimme enthalten beziehungsweise den Kandidaten von Rot-Rot-Grün, Bodo Ramelow, ablehnen werde. Die Verabredung habe ja auch gehalten – bis zum dritten Wahlgang.
Seither herrscht bei der CDU Alarmstimmung. Kramp-Karrenbauer und Mohring, zwei in der Kandidatenfalle, sind angezählt. Wer sagt was, wer glaubt wem? Es geht um die Vertrauensfrage.