Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
„Kein vorschnelles Groko-Aus“
Hamburgs Erster Bürgermeister über die Lehren aus Thüringen und seine Zukunft.
Herr Tschentscher, wie geht es Ihnen als einer der letzten Hoffnungsträger Ihrer Partei? TSCHENTSCHER Ich fühle mich als Erster Bürgermeister wohl und versuche, in Hamburg gute Arbeit zu machen. Wir wollen ein gutes Ergebnis bei der Bürgerschaftswahl erreichen. Das ist in der Tat nicht so leicht, weil der SPD-Bundestrend derzeit gegen uns läuft und die Grünen Rückenwind beim Thema Klimaschutz haben. Wir behaupten uns dabei ganz gut, finde ich.
Sie liegen in aktuellen Umfragen nur knapp vor den Grünen. Was macht Sie siegesgewiss? TSCHENTSCHER Dass die Hamburger SPD großes Vertrauen bei den Bürgerinnen und Bürger besitzt. Meine persönlichen Zustimmungswerte sind auch deutlich höher als die der anderen Spitzenkandidaten. Und unsere Botschaft ist klar: Wir wollen den erfolgreichen Kurs der Stadt fortführen, im Wohnungsbau, bei der Verkehrswende, den Investitionen in Bildung und Digitalisierung. Dabei sind wir glaubwürdig.
Warum sollten Sie glaubwürdiger bei Themen wie der Verkehrswende sein als die Grünen? TSCHENTSCHER Weil es mit dem Ausbau des Radverkehrs, mit Bus und Bahn erst vorangeht, seit wir den Bürgermeister stellen. Bis 2010, als CDU und Grünen regierten, passierte gar nichts beim Verkehr. Es gab kein Radverkehrskonzept, keinen Ausbau des Nahverkehrs, keine Sanierung der Straßen, gar nichts. Das haben wir 2011 geändert. Jetzt sind wir die erste deutsche Metropole, die ihre gesamte Busflotte emissionsfrei betreiben kann, weil wir schon vor vielen Jahren damit begonnen haben, dafür die Infrastruktur zu schaffen: Spezielle Werkstätten, Betriebshöfe, E-Ladetechnik.
Welche Auswirkungen hat Thüringen auf die Hamburg-Wahl für FDP und CDU?
TSCHENTSCHER Das kann dazu beitragen, dass die FDP an der Fünfprozenthürde scheitert und die CDU ihr schlechtes Ergebnis der letzten Wahl noch einmal unterbietet.
Wie geht es mit der großen Koalition in Berlin weiter? TSCHENTSCHER Wir gehen verantwortungsvoll mit der Regierungsbeteiligung in Berlin um. Es gibt keinen vorschnellen Austritt aus der großen Koalition, aber wir nehmen die Revisionsklausel im Koalitionsvertrag ernst und verhandeln mit der Union über neue Schwerpunkte und Projekte für den zweiten Teil der Legislaturperiode.
Aber hätten Olaf Scholz und Klara Geywitz die Vorsitzendenwahl gewonnen, wären sie doch nie mit einem gegenüber der Union so handzahmen Leitantrag durchgekommen...
TSCHENTSCHER Das sehe ich anders. Der Beschluss hätte unter dem anderen Spitzenduo sehr ähnlich gelautet. Die SPD wird über den Fortgang der großen Koalition einvernehmlich entscheiden.
Und die Groko-Gegner in der SPD laufen jetzt nicht mit der geballten Faust in der Tasche herum? Schließlich ist beim ersten Koalitionsausschuss in Sachen Mindestlohn nichts passiert, obwohl das ein klarer Verhandlungsauftrag vom Parteitag war. TSCHENTSCHER Das werden Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans weiter mit Nachdruck verhandeln. Die Union war nie für den Mindestlohn, das hat allein die SPD durchgesetzt. Irgendwann wird aber auch die Union zur Vernunft kommen. Wir brauchen in Deutschland einen Mindestlohn von zwölf Euro pro Stunde, damit alle, die Vollzeit arbeiten, am Ende auch von der Rente leben können.