Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Auf den Spuren der NSU-Opfer
Elf Jahre zog die rechtsextreme Terrorzelle NSU mordend durchs Land. In einem neuen Film sprechen die Hinterbliebenen.
DÜSSELDORF Es ist bemerkenswert, dass sie bereit waren, an diesem Film mitzuarbeiten. Dass sie sich nicht verkrochen haben vor Trauer und Wut. Nachvollziehbar wäre das.
Trauer darüber, dass ihnen jemand genommen wurde, ein Ehemann, Vater, Bruder, Kollege. Wütend darüber, dass die Behörden keinen Zusammenhang zwischen zehn Morden erkennen wollten. Dass stattdessen in ihrem Umfeld ermittelt wurde, dass sie selbst verdächtigt wurden.
Von Anfang 1998 bis Ende 2011 zog der sogenannte Nationalsozialistische Untergrund unentdeckt durchs Land, ein Trio untergetauchter Neonazis, das schließlich nach einem Bankraub in Eisenach aufflog. Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt erschossen sich, bevor sie verhaftet werden konnten; Beate Zschäpe gab ein Bekennervideo in die Post und reiste mit der Bahn durch die Republik, bevor sie sich der Polizei stellte. Mehr als fünf Jahre wurde ihr in München der Prozess gemacht. Das Urteil im Juli 2018: lebenslänglich. Man kennt die Geschichten der Täter, die der Opfer und ihrer Familien nicht so sehr.
Nun kommt ein Film heraus, er heißt „Spuren“, gedreht hat ihn Aysun Bademsoy. Es ist eine Dokumentation, die ab Donnerstag in den Kinos läuft, und es ist wichtig, dass es sie gibt. Bademsoy ist eine engagierte Filmemacherin, man hört sie zuweilen selber sprechen in „Spuren“, sie sagt „wir“. Die Regisseurin ist in der Türkei geboren und als Kind nach Deutschland gekommen. Sie sagt, dass es auch ihren Vater oder ihre Brüder hätte treffen können.
Bademsoy sucht die Nähe zu den Angehörigen, gibt den Hinterbliebenen das Wort. Da ist Ali Toy, ein früherer Kollege Enver Simseks, dem ersten Mordopfer der Rechtsextremen. Toy verkauft Blumen an einer Straße in Nürnberg, so wie Simsek zur Tatzeit. In der Nähe hat er in Gedenken Bäume gepflanzt. Sie sollen Enver Simseks Seele Schatten geben, sagt Toy. Abends gießt er sie mit dem Wasser vom Blumenstand.
Da ist Osman Tasköprü, dessen Bruder Süleyman in Hamburg-Altona
einen Gemüsehandel führte. Am 27. Juni 2001 wurde er in seinem Laden erschossen. Ein 31-Jähriger, der vor dem Fernseher schimpfte, wenn Fenerbahce Istanbul nicht den Fußball spielte, den er sich vorstellte. Sein Bruder sei ein Fan von Actionfilmen gewesen, erzählt Osman Tasköprü. Auf dem Handy zeigt er ein Bild, wie der Bruder auf dem Walk of Fame in Los Angeles kniet. Dort wo Sylvester Stallone einen Stern hat. In Altona haben sie dann Süleyman Tasköprü einen Stern in den Gehweg eingelassen.
In „Spuren“geht es um die Ermordeten und um ihre Hinterbliebenen, darum, wie das Leben für sie weiterging. Mundlos, Böhnhardt sowie Zschäpe und ihre vier Mitangeklagten
im Münchner Prozess zeigt die Regisseurin nie.
Natürlich aber spielen sie im Leben der Angehörigen eine Rolle, weil auch das Gerichtsverfahren viele Fragen offen ließ. „Es gibt nur Dunkelheit. Nichts wurde aufgeklärt“, sagt Elif Kubasik im Film, eine der Hinterbliebenen. Vom Prozess hatten sich die Familien erhofft, zu erfahren, ob es weitere Helfer gab und was die Behörden wussten, aber nicht sagten. Akten waren vernichtet worden, ein Verfassungsschützer war am Tatort eines Mordes in Kassel gewesen. Laut Prozessbeobachtern war Richter Manfred Götzl hingegen darauf bedacht, ein revisionssicheres Urteil zu sprechen, nicht aber wollte er alle Verstrickungen
im Detail aufklären. Viele Angehörige waren davon enttäuscht.
„Sie haben fünf Jahre fleißig wie Bienen gearbeitet, aber keinen Honig erzeugt“, klagte Ayse Yozgat nach dem Urteilsspruch vor laufenden Kameras. Ihr Sohn Halit war 2006 in seinem Internetcafé in Kassel erschossen worden. Die Yozgats zogen sich nach dem Prozess zurück – auch mit Aysun Bademsoy wollten sie nicht sprechen.
Das klingt nun nach lauter Anklage, dabei ist „Spuren“ein besonders leiser Film. Bademsoy gibt ihren Protagonisten viel Raum, lässt sie reden. Etwa Gamze Kubasik, deren Vater Mehmet am 4. April 2006 in seinem Kiosk in Dortmund ermordet wurde. Die Familie musste miterleben, wie sich Polizisten in der Nachbarschaft umhörten, ob der Ermordete Affären hatte, wie Beamte Verbindungen zur Mafia vermuteten. Ein Jahr lang ging Gamze deshalb kaum aus dem Haus, erzählt ihre Mutter Elif Kubasik. Als sich der NSU dann bekannte, war das Land erschüttert, die Familie aber erleichtert. Ihnen war die große Last genommen.
Ähnliche Geschichten erzählt Adile Simsek, deren Ehemann Enver im Jahr 2000 in Nürnberg ermordet wurde. Auch sie wurde nach anderen Frauen befragt, die Wohnung nach Schmuggelware durchsucht. Nachts wachte sie auf, weil sie das Telefon klingeln hörte. Selbst als sie das Kabel aus der Buchse zog, hörte
sie es klingeln. Sie stand unter Stress. Depressionen wurden diagnostiziert. Als die Täter ermittelt waren, fühlte sich das für sie selbst wie ein Freispruch an. Endlich eine weiße Weste. Das zu hören, ist schwer aushaltbar.
Filmemacherin Bademsoy hat Adile Simsek in der Türkei besucht, sie ist dorthin zurückgegangen. Ihre Tochter Semiya, die in Deutschland geboren wurde, ist ihr gefolgt. Bademsoy glaubt, dass die Morde ein Wendepunkt im Verhältnis der zweiten und dritten Einwanderergeneration zu Deutschland waren. Es sind Menschen, die sich für Deutschland entschieden hatten und sich nun verfolgt und verdächtigt fühlten.
Auch das Land hat sie versehrt.