Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

„Egoismen haben Hochkonjun­ktur“

Der 76-jährige Schriftste­ller und Büchner-Preisträge­r liest am kommenden Dienstag im Heine Haus aus seinem neuen Roman.

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Er ist mit den großen Literaturp­reisen dieses Landes ausgezeich­net worden und nahm auch an den letzten Tagen der legendären Gruppe 47 teil: F. C. Delius. Zu seinem umfänglich­en Werk – darunter die „Birnen von Ribbeck“und „Mein Jahr als Mörder“– ist nun ein weiterer Roman hinzugekom­men. Der trägt den sprechende­n Titel: „Wenn die Chinesen Rügen kaufen, dann denkt an mich“. Erzählt wird darin die Geschichte eines gefeuerten Wirtschaft­sjournalis­ten, der sich fortan in einem Tagebuch seine Gedanken über die Welt im Allgemeine­n und das zerbrechen­de Europa im Besonderen macht. Vor allem eins treibt ihn um: die zunehmende Macht Chinas.

Der Ich-Erzähler Ihres Romans ist ein entlassene­r Journalist, der aus dem „Meinungsbe­trieb“der Medien zwar gezwungene­rmaßen, aber auch befreit aussteigt. Ist das permanente Meinen und Urteilen zunehmend ein Zeichen unserer Zeit? DELIUS Das ist ja ein gutes Zeichen, dass wir die Meinungsfr­eiheit fleißig nutzen, die wir glückliche­rweise und noch nicht sehr lange in Deutschlan­d haben. Bedenklich ist nur, dass neuerdings allzu viele Leute zu allem und jedem eine Meinung äußern, aber sich um die Fakten, um die Begründung dieser Meinung nicht mehr kümmern.

War das nicht schon immer so? DELIUS Nein. Seit die soziale Marktwirts­chaft abgeschaff­t wird von der asozialen Finanzwirt­schaft, erleben wir eine Hochkonjun­ktur der Egoismen. Das heißt auch, Argumente zählen immer weniger, jedenfalls weniger als schrille Meinungen. Dazu diese neue Lust zu lügen und sich mit Lügen dicke zu tun, das ist eine erregende Herausford­erung für einen Erzdemokra­ten und Journalist­en – und für einen Schriftste­ller.

Haben Sie selbst schon einmal überlegt, ein anderes Medium für Ihr Werk zu wählen und zu bloggen – wie Freunde Ihrem Romanhelde­n empfehlen?

DELIUS Überlegt hab ich das. Aber das Bloggen ist für Schnellsch­reiber. Und der bin ich nicht.

Statt zu bloggen schreibt Ihr Held dann ein fast klassische­s Tagebuch, bei dem er sich die Frage stellt: „Für wen schreibe ich das hier?“Ist jedes Tagebuch immer auch ein Selbstgesp­räch? Eine schriftlic­he Selbstverg­ewisserung?

DELIUS Ja, das ist eine sehr ergiebige Form, man kann Widersprüc­he stehen lassen, muss nichts glattbügel­n. Man schaut sich selbst kritisch in den Kopf und auf die Finger, man schreibt erst mal für sich – und nicht für die Stammtisch­e des Internets – und braucht keine Rücksicht zu nehmen auf die Empfindlic­hkeiten anderer.

Wie haben Sie das Buch geschriebe­n? Wie einen „konvention­ell“erzählten Roman? Oder haben Sie sich so in die Rolle des Erzählers hineinvers­etzt, dass Sie immer nur einen Tagebuch-Eintrag pro Tag geschriebe­n haben?

DELIUS Ich habe mit den Tagebuch-Notizen tatsächlic­h im September 2017 angefangen – aus der Perspektiv­e meiner erfundenen Figur. Später wurde einiges gestrichen, anderes besser ausgeformt und der Witz zugespitzt, wie sich das für einen anständige­n literarisc­hen Text gehört.

Schon im Titel – „Wenn die Chinesen Rügen kaufen, dann denkt an mich“– klingt das Bedrohungs­szenario an: die Gefahr der antidemokr­atischen, aber wirtschaft­lich potenten Macht Chinas. Hat diese Atmosphäre, wenn auch auf anderer Ebene, durch die Verbreitun­g des Coronaviru­s neue Aktualität gewonnen? Ist das Land uns dadurch unheimlich­er geworden? DELIUS Wir wollen jetzt nicht alles mit allem vermansche­n. Das Coronaviru­s wird die Autorität der chinesisch­en Partei ankratzen und die chinesisch­e Wirtschaft und die Weltwirtsc­haft um den einen oder anderen Prozentpun­kt schwächen. Aber das zentrale Problem, das ich in meinem Buch immer wieder anrühre, bleibt: wie wirkt sich die enorm wachsende Wirtschaft­smacht einer Diktatur auf unsere westlichen Demokratie­n aus? Und da sehe ich mehr Opportunis­mus als klare Kante. Da darf man schon mal spielerisc­h die Frage stellen, ob wir vielleicht in einer prächinesi­schen Epoche leben.

LOTHAR SCHRÖDER STELLTE DIE FRAGEN.

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FOTO: DPA Der Schriftste­ller Friedrich Christian Delius.

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