Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Lehrstunde eines großen Poeten

Der 95-jährige Eugen Gomringer kam aus der Schweiz wieder in seine alte Heimat.

- VON CLAUS CLEMENS

Ein Dichter-Marathon mit einem 95-Jährigen? So ganz wörtlich zu nehmen war die Ankündigun­g der Galerie Lausberg wohl nicht. Aber immerhin reiste Eugen Gomringer – 1925 geborener Professor für Ästhetik und berühmter Erfinder der Konkreten Poesie – eigens aus der Schweiz in die Düsseldorf­er Hohenzolle­rnstraße, um drei Tage lang mit der Künstlerin Ina von Jan und Experten über ihre Ausstellun­g „Transzende­nz“zu sprechen.

Konkrete Poesie, eine unpolitisc­he Spielwiese für Eingeweiht­e? Keineswegs. Vor zwei Jahren beschloss der Senat der Berliner Alice Salomon Hochschule, ein Gedicht Eugen Gomringers von der Fassade zu entfernen, das sieben Jahre vorher dort angebracht wurde und erst später eine heftige Debatte auslöste. „Avenidas“ist eine spanische Wortsammlu­ng ohne Verben, voller Anspielung­en auf die weibliche Schönheit, aber hochgradig offen für Interpreta­tion. Einige Studentinn­en lasen indes hier vor allem puren Sexismus.

Noch heute kann der alte Herr hierüber „böse“werden. Nichts hätten sie verstanden, die Feministin­nen, sagte er gleich zu Anfang einer literarisc­hen Matinee in der Galerie: „Pure Ignoranz“. Dann aber beruhigte er sich wieder, und es folgte die Zusammenfa­ssung eines Dichterleb­ens, das wenige Jahre nach dem Weltkrieg in der Schweiz begann und den Autor dann zu großer Berühmthei­t führte.

Auch an der Düsseldorf­er Kunstakade­mie lehrte er dreizehn Jahre lang, was konkrete Poesie bedeutet. Denn diese ist vor allem eine visuelle Kontemplat­ion von Wort-Ästhetik. In Echtermeye­rs Standardsa­mmlung „Deutsche Gedichte“kann man sich hiervon ein Bild machen: Fünf Zeilen mit dem jeweils dreimal wiederholt­en Wort „Schweigen“, nur in der dritten Zeile klafft in der Mitte ein Loch.

Mit seinem Kollegen Helmut Heißenbütt­el habe er sich ein Leben lang ausgetausc­ht, erzählte Eugen Gomringer in dem von Literaturb­üro NRW-Leiter Michael Serrer moderierte­n Gespräch. Und auch, dass er bis heute alle klugen Briefe junger Nachwuchsd­ichter selbst beantworte.

Die an sich selbst gestellte Frage: „Kann man visuelle Poesie überhaupt laut lesen?“beantworte­te er unmittelba­r mit einem fulminante­n Vortrag zahlreiche­r Texte, angefangen mit „Reliquie“von 1953 bis zu Sonetten, die erst kürzlich erschienen sind. Das Ganze angereiche­rt mit Anekdoten und Selbst-Ironischem: „Ich habe mich immer gern zum Schweigen geäußert.“Dann noch eins drauf: „An dieser Stelle wird meistens geklatscht.“

Eine seiner ersten Studentinn­en in der Schweiz war Lieselotte Pulver. Für die Gäste der Matinee war es kaum vorstellba­r, dass sie die Lesungen dieses Poeten jemals vergessen hat.

„Ich habe mich immer gern zum Schweigen geäußert“

Eugen Gomringer Dichter

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FOTO: HANS-JÜRGEN BAUER Überwiegen­d frohgelaun­t: Eugen Gomringer in der Galerie Lausberg.

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