Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Die AfD beruft sich aufs Grundgesetz
Innenminister Horst Seehofer nannte die Partei in einem Interview „staatszersetzend“. Durfte er das auf der Homepage seines Ministeriums veröffentlichen? Vor dem Bundesverfassungsgericht steht die AfD vor ihrem nächsten Erfolg.
KARLSRUHE Horst Seehofer gibt es, jedenfalls auf dem Papier, in zweifacher Ausfertigung. Da wäre einmal Horst Seehofer, Bundesminister des Innern, für Bau und Heimat. Aber Horst Seehofer tritt auch in Form eines CSU-Politikers auf. Wann er welches Gesicht zeigt, ist nicht ganz einfach zu erkennen. Wer ist Horst Seehofer, und wenn ja, wie viele? Die Unterscheidung scheint dem 70-Jährigen selbst nicht immer ganz leicht zu fallen.
Es mag wie Haarspalterei anmuten, bei Politikern zwischen den Funktionen zu differenzieren. Aber in einem Rechtsstaat zeigt sich manchmal an einer vermeintlichen Petitesse ein großes Problem. So wie im Falle Horst Seehofers.
Im September 2018 hatte Seehofer die AfD in einem Interview mit der Deutschen Presse-Agentur scharf angegriffen. „Die stellen sich gegen den Staat. Da können sie tausend Mal sagen, sie sind Demokraten“, hatte er etwa gesagt. Die AfD hatte zuvor im Bundestag die Amtsführung des Bundespräsidenten angegriffen. „Staatszersetzend“nannte Seehofer das Vorgehen der Partei.
Seehofers Sätze fanden großes Echo. Er selbst ließ sie auf der Homepage seines Ministeriums hochladen. Eine folgenreiche Entscheidung. Denn die AfD-Fraktion beschwerte sich in Karlsruhe.
Das Bundesverfassungsgericht beschäftigte sich am Dienstag in einer der seltenen mündlichen Verhandlungen mit diesem Fall. Die Kernfrage des Verfahrens lautet, ob der Innenminister Seehofer – nicht der CSU-Politiker – seine Neutralitätspflicht verletzt hat.
Das Grundgesetz verpflichtet den Staat in Artikel 21 zur Neutralität den politischen Parteien gegenüber. Alle Parteien müssen im politischen Wettbewerb die gleichen Chancen haben. Die Minderheit muss zur Mehrheit werden können – das ist eine Voraussetzung der Demokratie. Die AfD wirft Seehofer vor, genau diese Gleichbehandlungspflicht verletzt zu haben. Fraktionschef Alexander Gauland sagte, Seehofer habe seine Amtsautorität für eine „Beschimpfung der AfD“genutzt.
Seehofers Fehler bestand darin, das AfD-kritische Interview auf der offiziellen Website des Ministeriums hochladen zu lassen. Deswegen können die Äußerungen dem Innenminister zugerechnet werden – und nicht dem CSU-Politiker. Der Parteipolitiker ist, anders als das Regierungsmitglied, nicht zur Neutralität verpflichtet.
Verfassungsrichter Peter Müller sagte in der Verhandlung, dass die Neutralitätspflicht verbiete, einseitig zugunsten oder zulasten anderer Parteien einzugreifen: „Wenn auf der Homepage des Innenministeriums
ein Interview des Innenministers verbreitet wird, dann wird hier ein Weg genutzt, der den politischen Wettbewerbern nicht zur Verfügung steht“, so Müller.
Die Düsseldorfer Parteienrechtlerin Sophie Schönberger sieht das ähnlich. Seehofer habe Ressourcen seines Ministeriums genutzt, um seine parteipolitische Meinung zu verbreiten. „Genau das ist aber verfassungsrechtlich unzulässig“, sagt sie. Lege man frühere Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zugrunde, drohe Seehofer eine Niederlage. „Nach meiner Einschätzung hat er klar seine Neutralitätspflicht verletzt“, sagt die Juristin.
Was für Seehofer eine Niederlage wäre, würde für die AfD nach dem Thüringer Wahlcoup den nächsten öffentlichkeitswirksamen Erfolg bedeuten. Sie könnte sich nach 2018 abermals die höchstrichterliche Bestätigung einholen, benachteiligt worden zu sein. Vor zwei Jahren hatte der Zweite Senat bereits der damaligen Bundesbildungsministerin Johanna Wanka (CDU) untersagt, auf ihrer Homepage „Rote Karte für die AfD“zu schreiben.
Der Umgang mit der AfD ist auch mehr als zwei Jahre nach ihrem Einzug in den Bundestag für viele Politiker unklar. Es scheint, als gebe es eine Art AfD-Komplex, der die Akteure
der anderen Parteien unvorsichtig werden lässt. Seehofers Innenministerium etwa verfügt über eine hinreichende Anzahl an Verfassungsrechtlern, denen die Neutralitätspflicht ihres Dienstherrn geläufig ist. Warum sie nicht eingriffen, ist fraglich. Laut Staatsrechtlerin Schönberger liegt die Unvorsichtigkeit nicht in dem Interview selbst, sondern nur im Hochladen auf der Homepage.
Seehofer ließ sich vor dem Verfassungsgericht von seinem Parlamentarischen Staatssekretär Günter Krings (CDU) vertreten. Der verteidigte die Äußerungen seines Chefs. „Zugegeben: Die Formulierung ist zugespitzt“, sagte er. Aber weil der Ton in der Politik rauer geworden sei, müsse auch eine Reaktion möglich sein. Zudem verfüge Seehofer weder über ein Landtags- oder Bundestagsmandat noch über eine eigene Homepage. Wenn Bürger sich über Stellungnahmen Seehofers informieren wollten, müssten sie auf der Seite des Ministeriums fündig werden können.
Sophie Schönberger rät Ministerien dazu, zukünftig sorgfältiger zwischen amtlichen und parteipolitischen Aussagen zu unterscheiden. „Wenn das dazu führt, dass nicht jedes Interview des Ministers auf der Ministeriumshomepage verlinkt werden kann, ist das kein Schaden für die Arbeit des Ministeriums“, sagt Schönberger.