Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Die Sucht der Sprayer
Schätzungsweise eine Million Menschen sind in Deutschland von Nasensprays abhängig. Auf Dauer drohen ihnen schwere Schäden – nicht nur an ihrem Riechorgan.
DÜSSELDORF Zu den Lernerfolgen im Berufsleben jedes Arztes zählt die Kompetenz, auch nebulöse Aussagen schnell einzuordnen zu können. So weiß der HNO-Arzt, was der Schniefnasige am Telefon mit dem Satz meint: „Herr Doktor, ich bin komplett zu!“Hübsch ist auch die Adjektiv-Neuschöpfung der „zuen Nase“.
Diese Beschreibungen, die Assoziationen an das Sanitär-, Installateursund Rohrreinigergewerbe wecken, treffen auf ein Organ zu, dessen Schleimhäute und Schwellkörper etwa bei viralen Infekten und Erkältungen die Eigenschaft besitzen, anzuschwellen und die Atmung nachhaltig zu behindern. „Manche Menschen neigen dann zu einer unvorsichtigen Form der Selbstbehandlung“, sagt Peter Löhmer, „denn sie nehmen ihre Nasentropfen zu lange.“Der erfahrene HNOArzt in Mönchengladbach hat schon etliche Patienten gesehen, die den Teufel mit dem Beelzebub ausgetrieben haben. „Sie haben eine schnelle Reaktion auf ihre Beschwerden erlebt
„Einige Nasen sehen aus wie bei Leuten, die regelmäßig koksen“
Peter Löhmer HNO-Arzt
– und dann gewöhnen sie sich dermaßen an diesen positiven Effekt, dass sie das Medikament länger als eine Woche einnehmen und dann Probleme bekommen.“
Die erste Form dieser Probleme ist die Abhängigkeit. „Die Leute glauben, dass sie nicht mehr ohne Tropfen auskommen, weil sonst ihre Nase dauerhaft zugeschwollen bleibe“, weiß Löhmer. Und die Abhängigkeit führt dann auch in die Sucht: So hat der Rapper Sido neulich in „Bild“eingeräumt, dass er „seit 15 Jahren nasenspray-süchtig“sei: „Leute, die mich wirklich gut kennen, wissen, dass ich immer Nasenspray in der Tasche habe.“Ohne Spray tat ihm der Kopf weh und war seine Nase verstopft. Jetzt will er eisern bleiben und einen Entzug durchführen.
Löhmer ahnt, was da in Sidos Kopf tickt. Alles um das Riechen und die Nase ist beim Menschen hochgradig emotional bewertet, es gibt eine unmittelbare Verschaltung mit dem limbischen System im Gehirn. „Und wenn es dann für das Problem der verstopften Nase eine schnelle Lösung wie das Nasenspray gibt, dann wird auch das Belohnungssystem im Gehirn aktiviert“, sagt Löhmer. Folge: Man macht es immer wieder, weil es so gut wirkt. Und dann fährt der Sprayer samstags um 23 Uhr zur Not-Apotheke, weil ihm das Nasenspray ausgegangen ist.
Was machen diese Sprays? Diese raffinierten Medikamente zählen zur Gruppe der sogenannten Alpha-Sympathikomimetika, die Wirkstoffe heißen Xylometazolin, Oxymetazolin oder Tramazolin. Sie sind auch in Nasentropfen enthalten. „Sie bewirken, indem sie das sympathische Nervensystem aktivieren, eine Verengung der Blutgefäße“, sagt Johannes Schultz, HNO-Chefarzt am Helios-Klinikum Krefeld. „Damit wird eine Verminderung der Durchblutung in den Schleimhäuten und insbesondere in den Nasenschwellkörpern, den sogenannten Nasenmuscheln, erreicht.“Der Effekt: „Hierdurch kommt es zu einer Volumenminderung der Schleimhäute, und die Nase wird für mehrere Stunden wieder frei.“
Aber die Sache hat einen Haken: „Durch den relativen Sauerstoffmangel
im Gewebe, den die Minderung der Durchblutung auslöst, wird in der Folge eine Hyperämie, also eine gesteigerte Durchblutung im Vergleich zu vor der Anwendung, ausgelöst.“Und dann ist die Nase erst recht zu – und man muss wieder sprühen. Gefangen im Kreislauf. Schultz: „Durch die häufige Anwendung kommt es auch zu einem Gewöhnungseffekt auf der Ebene der sogenannten Rezeptoren. Diese Toleranz schwächt die Anwendung, wodurch sie noch häufiger oder in höherer Dosierung erforderlich wird.“Bekannt ist auch bei Nasensprays der sogenannte Rebound-Effekt, eine Art Bumerang oder Rückprall, wodurch die Beschwerden sich eher noch steigern.
Statistisch ist Nasenspray-Sucht eine unklare Hausnummer. Schultz: „In der Literatur findet man dazu nur wenig Daten, die Schätzungen
für Deutschland belaufen sich auf mindestens 100.000 Betroffene, die Dunkelziffer dürfte allerdings zehnfach so hoch liegen.“Eine Million Nasenspray-Junkies, die nicht ahnen, dass sie unter einer Sucht leiden? Mediziner streiten zwar darüber, dass es wirklich eine Sucht ist. HNO-Fachmann Schultz zweifelt: „Der Begriff der Sucht ist definiert als körperliche wie psychische Abhängigkeit und im Zusammenhang mit Nasenspray nur bedingt anwendbar.“
Und wenn es doch eine Sucht-Problematik gibt – wäre sie wirklich so schlimm? „Leider ja“, warnt Löhmer. „Nasenbluten ist ein häufiges Phänomen, das bei Sprayern auftritt, vor allem im Winter bei kalter Außenluft oder trockener, überheizter Raumluft. Es können sich Krusten bilden, und manche Nase sieht aus, als ob einer dauernd kokst.“Es besteht auch die Gefahr, dass sich Löcher in der Scheidewand bilden, die operativ saniert werden müssen. In der Fachliteratur wird auch vor der sogenannten „Stinkernase“gewarnt, die für das Gegenüber tatsächlich sehr unangenehm riecht, wobei die Betroffenen selbst gar nichts davon mitkriegen. „Solche Fälle“, so Löhmer, „sind aber eine Rarität.“Trotzdem warnt auch Schultz vor den langfristigen Effekten jenes Teufelskreises: „Das Sprayen kann teils erhebliche und nicht reparable Folgen für die Schleimhäute der Nase und der Nasennebenhöhlen haben.“
Die Verringerung der Durchblutung ist zwar der schnelle symptomatische Nutzen dieser Sprays, sie reduziert aber den „Selbstreinigungsmechanismus der Schleimhäute“(Schultz), ebenso auch die Zufuhr von Nährstoffen, was zu einer Form von Minderversorgung führt. Schultz erklärt die Folgen: „Hierdurch wird nicht nur die Reinigungsfunktion, sondern auch die Klimatisierungsfunktion der Nasenschleimhäute beeinträchtigt – mit erheblichen Konsequenzen für
„Manchmal hilft den Betroffenen eine kleine OP“
Johannes Schultz HNO-Arzt
den gesamten Atemweg und auch für die Lungenfunktion.“
Doch die Folgen können auch über das eigentliche Organ Nase hinaus andere Konsequenzen nach sich ziehen. So beschreiben viele Patienten teilweise massive Schlafstörungen durch die nasale Blockade (was abermaliges Sprühen erforderlich macht), verbunden mit Schnarchen, Mundatmung und trockenem Rachen am Morgen. Schultz: „Der fragmentierte Schlaf führt zur Tagesmüdigkeit mit Auswirkungen auf die allgemeine Leistungsfähigkeit (kognitive Leistungsfähigkeit, Konzentration, gesteigertes Unfallrisiko etc.) und auf das Herzkreislaufsystem durch den nächtlichen Stress. Die Abhängigkeit kann neben den rein nasalen Symptomen auch durch Kopfschmerzen, Unruhezustände und die Angst vor dem Absetzen des Nasensprays gekennzeichnet sein.“
Was wirklich hilft, um von den Sprays loszukommen? „Nur der kalte Entzug“, rät Löhmer. „Die ersten 36 Stunden sind zwar schwierig, dann wird es merklich besser.“Man kann das Absetzen auch dadurch einleiten, dass man erst einmal nur ein Nasenloch zum Sprühen nimmt. Dann kann man es mit salzhaltigen Nasenspülungen versuchen. Wer trotzdem weiterhin mit zugeschwollenen oberen Atemwegen zu tun hat, bei dem könnte es sinnvoll sein, die ohnehin vergrößerten Nasenschwellkörper durch einen kleinen chirurgischen Eingriff zu verkleinern. „Zuvor ist aber trotzdem genaue Diagnostik erforderlich, was genau die Schwellungen der Schleimhaut auslöst“, rät Löhmer. Bei einer Allergie wie Heuschnupfen sind andere Medikamente erforderlich.
Wenn operiert wird, kommen moderne und minimalinvasive Verfahren zum Tragen. HNO-Chefarzt Schultz schildert sie: „Hierbei werden durch punktuelle Injektionen in Lokalanästhesie, unter maximaler Schonung der bereits geschädigten Schleimhaut, Hitzeimpulse per Strom unter die Schleimhaut gesetzt und die Schwellkörper verkleinert. Durch diesen Eingriff wird dauerhaft die Wirkung des Sprays imitiert und der Patient von seinem Leiden befreit.“