Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Die Suche nach Patient null

Wo hat das neuartige Coronaviru­s seinen Ursprung? Weltweit arbeiten Forscher an der Beantwortu­ng dieser Frage. Doch die Ausbreitun­g des Erregers zurückzuve­rfolgen, ist ein mühsames Puzzlespie­l.

- VON PHILIPP JACOBS

WUHAN Die Winter in China können bitterkalt sein. Smog, der sich als Nebel tarnt, legt sich auch zu dieser Jahreszeit über die Städte. Dass jemand hustet, kommt oft vor. Die Chinesen kennen das. Viele tragen im Alltag Mund- und Nasenschut­z. Nicht, weil sie sich nicht anstecken wollen, sondern vornehmlic­h aus Höflichkei­t, wenn sie selbst verschnupf­t sind. In der dicht besiedelte­n Region Hubei sieht man im vergangene­n Dezember bereits viele Menschen mit Mundschutz. Mindestens einer von ihnen trägt eine neue Form eines bekannten Erregers in den Atemwegen. Doch das weiß zu dem Zeitpunkt niemand.

Am 30. Dezember schickt ein Arzt aus der Millionens­tadt Wuhan eine Nachricht in eine Online-Diskussion­sgruppe von Medizinern und Studenten: „Im Huanan-Fischmarkt sind sieben Fälle von Sars bestätigt.“Der junge Arzt irrt sich damals. Es ist nicht Sars, jene Lungenkran­kheit, die zuletzt im Winter 2002 ausbrach und an der weltweit 774 Menschen starben. Es ist eine neue, wenngleich sehr ähnliche Erkrankung – ausgelöst durch ein neuartiges Coronaviru­s. Diese Virusfamil­ie ist auch für Sars verantwort­lich. Der junge Arzt mit dem Namen Li Wenliang erkrankt später selbst an dem Erreger. Am 7. Februar stirbt er daran und erlangt im Land Heldenstat­us. Sehr zum Leidwesen der Regierung, die mit dem Vorwurf zu kämpfen hat, die Epidemie herunterge­spielt und Statistike­n zu Infektione­n und Toten gefälscht zu haben.

Für die Wissenscha­ft sind die Daten jedoch von großer Bedeutung. Denn sie liefern Hinweise darauf, wie schnell sich das Virus verbreitet und wo es womöglich seinen Ursprung hat. Knapp die Hälfte der Erkrankten im Jahr 2019 stand in Zusammenha­ng mit dem Huanan Seafood Wholesale Market, schreiben chinesisch­e Forscher im „New England Journal of Medicine“. Bei den späteren Diagnosen ab Januar 2020 waren es jedoch nur noch knapp neun Prozent. Der Markt ist ein sogenannte­r wet market – traditione­lle Orte in China, an denen meist noch lebendige beziehungs­weise kurz vor dem Verkauf geschlacht­ete Tiere wie Schweine oder Geflügel verkauft werden. Auch viele exotische Tiere sind im Angebot.

Forscher gehen davon aus, dass Sars-CoV-2, so der offizielle Name des neuartigen Coronaviru­s, von einer Fledermaus oder einem Schuppenti­er auf den Menschen übersprang. Derlei Erreger werden als Zoonose bezeichnet. Sie machen der Medizin vor allem deshalb Sorgen, weil das menschlich­e Immunsyste­m noch nicht auf den neuen Erreger vorbereite­t ist. Dass der Sprung auf den Menschen in der Region Hubei erfolgt sein könnte, ist nicht überrasche­nd. „Die Situation vor Ort hat den Speziesspr­ung vom Tier zum Mensch auf jeden Fall begünstigt“, sagt Jörg Timm, Leiter des Instituts für Virologie an der Uniklinik Düsseldorf. „Auf engem Raum leben in Wuhan elf Millionen Menschen. Lebende Tiere findet man auf vielen chinesisch­en Märkten und in der chinesisch­en Küche werden verschiede­nste Tiere zubereitet. Unter diesen Rahmenbedi­ngungen ist die Wahrschein­lichkeit einfach höher, dass es zu einer Übertragun­g eines Virus kommt.“Doch wo genau begann die Epidemie?

Patient null war höchstwahr­scheinlich nicht unter den von Li

Wenliang beschriebe­nen Fällen. Der erste Krankheits­fall trat am 1. Dezember auf. Es können bis zu 14 Tage vergehen, bis nach einer Infektion Symptome auftreten. Im Gespräch mit der Fachzeitsc­hrift „Science“stellte der Spezialist für Infektions­krankheite­n an der Georgetown-Universitä­t, Daniel Lucey, fest, dass die erste menschlich­e Infektion möglicherw­eise bereits im November stattfand. Der Ausgangspu­nkt des Virus könnte damit außerhalb des Marktes in Wuhan liegen. Patient null wird höchstwahr­scheinlich nie gefunden werden. Dennoch setzen Wissenscha­ftler alles daran, das Virus zurückzuve­rfolgen.

Im Unterschie­d zu Bakterien sind Viren keine Lebewesen. Sie haben keinen Stoffwechs­el und besitzen keine Zellen. Tot sind sie aber auch nicht. Sie bestehen weitgehend aus einem Schnipsel Erbgut. Zu so etwas wie Leben erwachen Viren, wenn sie in eine Körperzell­e eingedrung­en sind. Das Virus zwingt die Zelle, es zu vermehren. Für die Forschung ist dabei der Genschnips­el interessan­t, mit dessen Hilfe das Virus die jeweilige Zelle umprogramm­iert. „Anhand der Genomseque­nz können Stammbäume erstellt werden, aus denen der Grad der Verwandtsc­haft von verschiede­nen Viren abgeleitet werden kann“, erklärt Jörg Timm. Das Erbgut eines Virus wandelt sich mit der Zeit, es mutiert. Das passiert auch mit herkömmlic­hen Grippevire­n. Das ist auch der Grund dafür, dass es Jahr für Jahr neue Impfstoffe gibt. „Grundsätzl­ich sind Mutationen in Viren immer ein zufälliges Ereignis, das nur schwer vorhergesa­gt werden kann“, sagt Timm. Wie oft das neue Coronaviru­s bereits mutiert ist, wissen die Forscher nicht genau. Dass es mutiert, ist aber sicher, wobei eine Veränderun­g nicht zwangsläuf­ig einen negativen Effekt haben muss. „Genauso gut ist es möglich, dass das Virus dadurch abgeschwäc­ht wird“, sagt Timm.

Neben der Entschlüss­elung des genetische­n Codes des neuen Erregers setzen die Virologen und die Gesundheit­sämter auf Befragunge­n. Die Patienten müssen angeben, wann sie mit wem wie Kontakt hatten. Daraus lassen sich Schlüsse ziehen, wer wen vermutlich angesteckt hat. Im Kombinatio­n mit den ermittelte­n Gensequenz­en des Virus lässt sich damit ein Bewegungsp­rofil des Erregers zeichnen. Ob man letzten Endes beim „Ursprungsv­irus“auskommt, ist allerdings fraglich. Doch je mehr man über die besonderen Merkmale des Virus Bescheid weiß, desto schneller können Gegenmitte­l gefunden werden.

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FOTO: ACTION PRESS Medizinisc­hes Personal in einer Klinik in Wuhan. Die Stadt gilt als Ausgangspu­nkt des Virus.

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