Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Die Suche nach Patient null
Wo hat das neuartige Coronavirus seinen Ursprung? Weltweit arbeiten Forscher an der Beantwortung dieser Frage. Doch die Ausbreitung des Erregers zurückzuverfolgen, ist ein mühsames Puzzlespiel.
WUHAN Die Winter in China können bitterkalt sein. Smog, der sich als Nebel tarnt, legt sich auch zu dieser Jahreszeit über die Städte. Dass jemand hustet, kommt oft vor. Die Chinesen kennen das. Viele tragen im Alltag Mund- und Nasenschutz. Nicht, weil sie sich nicht anstecken wollen, sondern vornehmlich aus Höflichkeit, wenn sie selbst verschnupft sind. In der dicht besiedelten Region Hubei sieht man im vergangenen Dezember bereits viele Menschen mit Mundschutz. Mindestens einer von ihnen trägt eine neue Form eines bekannten Erregers in den Atemwegen. Doch das weiß zu dem Zeitpunkt niemand.
Am 30. Dezember schickt ein Arzt aus der Millionenstadt Wuhan eine Nachricht in eine Online-Diskussionsgruppe von Medizinern und Studenten: „Im Huanan-Fischmarkt sind sieben Fälle von Sars bestätigt.“Der junge Arzt irrt sich damals. Es ist nicht Sars, jene Lungenkrankheit, die zuletzt im Winter 2002 ausbrach und an der weltweit 774 Menschen starben. Es ist eine neue, wenngleich sehr ähnliche Erkrankung – ausgelöst durch ein neuartiges Coronavirus. Diese Virusfamilie ist auch für Sars verantwortlich. Der junge Arzt mit dem Namen Li Wenliang erkrankt später selbst an dem Erreger. Am 7. Februar stirbt er daran und erlangt im Land Heldenstatus. Sehr zum Leidwesen der Regierung, die mit dem Vorwurf zu kämpfen hat, die Epidemie heruntergespielt und Statistiken zu Infektionen und Toten gefälscht zu haben.
Für die Wissenschaft sind die Daten jedoch von großer Bedeutung. Denn sie liefern Hinweise darauf, wie schnell sich das Virus verbreitet und wo es womöglich seinen Ursprung hat. Knapp die Hälfte der Erkrankten im Jahr 2019 stand in Zusammenhang mit dem Huanan Seafood Wholesale Market, schreiben chinesische Forscher im „New England Journal of Medicine“. Bei den späteren Diagnosen ab Januar 2020 waren es jedoch nur noch knapp neun Prozent. Der Markt ist ein sogenannter wet market – traditionelle Orte in China, an denen meist noch lebendige beziehungsweise kurz vor dem Verkauf geschlachtete Tiere wie Schweine oder Geflügel verkauft werden. Auch viele exotische Tiere sind im Angebot.
Forscher gehen davon aus, dass Sars-CoV-2, so der offizielle Name des neuartigen Coronavirus, von einer Fledermaus oder einem Schuppentier auf den Menschen übersprang. Derlei Erreger werden als Zoonose bezeichnet. Sie machen der Medizin vor allem deshalb Sorgen, weil das menschliche Immunsystem noch nicht auf den neuen Erreger vorbereitet ist. Dass der Sprung auf den Menschen in der Region Hubei erfolgt sein könnte, ist nicht überraschend. „Die Situation vor Ort hat den Speziessprung vom Tier zum Mensch auf jeden Fall begünstigt“, sagt Jörg Timm, Leiter des Instituts für Virologie an der Uniklinik Düsseldorf. „Auf engem Raum leben in Wuhan elf Millionen Menschen. Lebende Tiere findet man auf vielen chinesischen Märkten und in der chinesischen Küche werden verschiedenste Tiere zubereitet. Unter diesen Rahmenbedingungen ist die Wahrscheinlichkeit einfach höher, dass es zu einer Übertragung eines Virus kommt.“Doch wo genau begann die Epidemie?
Patient null war höchstwahrscheinlich nicht unter den von Li
Wenliang beschriebenen Fällen. Der erste Krankheitsfall trat am 1. Dezember auf. Es können bis zu 14 Tage vergehen, bis nach einer Infektion Symptome auftreten. Im Gespräch mit der Fachzeitschrift „Science“stellte der Spezialist für Infektionskrankheiten an der Georgetown-Universität, Daniel Lucey, fest, dass die erste menschliche Infektion möglicherweise bereits im November stattfand. Der Ausgangspunkt des Virus könnte damit außerhalb des Marktes in Wuhan liegen. Patient null wird höchstwahrscheinlich nie gefunden werden. Dennoch setzen Wissenschaftler alles daran, das Virus zurückzuverfolgen.
Im Unterschied zu Bakterien sind Viren keine Lebewesen. Sie haben keinen Stoffwechsel und besitzen keine Zellen. Tot sind sie aber auch nicht. Sie bestehen weitgehend aus einem Schnipsel Erbgut. Zu so etwas wie Leben erwachen Viren, wenn sie in eine Körperzelle eingedrungen sind. Das Virus zwingt die Zelle, es zu vermehren. Für die Forschung ist dabei der Genschnipsel interessant, mit dessen Hilfe das Virus die jeweilige Zelle umprogrammiert. „Anhand der Genomsequenz können Stammbäume erstellt werden, aus denen der Grad der Verwandtschaft von verschiedenen Viren abgeleitet werden kann“, erklärt Jörg Timm. Das Erbgut eines Virus wandelt sich mit der Zeit, es mutiert. Das passiert auch mit herkömmlichen Grippeviren. Das ist auch der Grund dafür, dass es Jahr für Jahr neue Impfstoffe gibt. „Grundsätzlich sind Mutationen in Viren immer ein zufälliges Ereignis, das nur schwer vorhergesagt werden kann“, sagt Timm. Wie oft das neue Coronavirus bereits mutiert ist, wissen die Forscher nicht genau. Dass es mutiert, ist aber sicher, wobei eine Veränderung nicht zwangsläufig einen negativen Effekt haben muss. „Genauso gut ist es möglich, dass das Virus dadurch abgeschwächt wird“, sagt Timm.
Neben der Entschlüsselung des genetischen Codes des neuen Erregers setzen die Virologen und die Gesundheitsämter auf Befragungen. Die Patienten müssen angeben, wann sie mit wem wie Kontakt hatten. Daraus lassen sich Schlüsse ziehen, wer wen vermutlich angesteckt hat. Im Kombination mit den ermittelten Gensequenzen des Virus lässt sich damit ein Bewegungsprofil des Erregers zeichnen. Ob man letzten Endes beim „Ursprungsvirus“auskommt, ist allerdings fraglich. Doch je mehr man über die besonderen Merkmale des Virus Bescheid weiß, desto schneller können Gegenmittel gefunden werden.