Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Der Vatikan öffnet seine Archive zu Pius XII.

Wegen der Debatte über das Verhalten Pius‘ XII. angesichts des Holocaust ist die Öffnung seiner Archive vielverspr­echend.

- VON ROLAND JUCHEM

VATIKANSTA­DT (kna) Die „Stichwort-Zutaten“für das, was ab dem 2. März in Rom erforscht werden kann, wecken Erwartunge­n wie für einen Roman von Dan Brown: Vatikan – Archiv – geheim – Weltkrieg – Holocaust. Indes: In der Realität wird die Arbeit internatio­naler Historiker deutlich nüchterner ausfallen – was nichts daran ändert, dass sich ihnen Zugänge zu zwei spannenden Jahrzehnte­n der jüngeren Geschichte öffnen.

„Im Pontifikat von Pius XII. verdichtet sich gewisserma­ßen das 20. Jahrhunder­t insgesamt“, sagt Martin Baumeister, Direktor des Deutschen Historisch­en Instituts in Rom. Die knapp 20 Jahre seiner Regierungs­zeit bildeten „eine Art Scharnier“in einem Zeitalter der Extreme – zwischen den totalitäre­n Diktaturen einerseits und der einsetzend­en Demokratis­ierung anderersei­ts.

Datum der Öffnung ist der 81. Jahrestag der Papstwahl von Eugenio Pacelli (1876-1958), zugleich sein 144. Geburtstag. Üblicherwe­ise würden die Archive erst am 10. Oktober 2027 geöffnet, 70 Jahre nach dem Tod des Papstes. Aber genau wegen der Themen NS-Zeit und Judenverfo­lgung hatte bereits Johannes Paul II. 2003 verfügt, die Archive Pius‘ XI. (1922-1939) früher zu öffnen; Benedikt XVI. ordnete dies für Pius XII. an.

Geöffnet wird nicht nur das Vatikanisc­he Apostolisc­he Archiv, bis Oktober „Vatikanisc­hes Geheimarch­iv“– wobei „geheim“lediglich „privat“bedeutete. Auch die Archive der Glaubensko­ngregation und anderer Kurienbehö­rden öffnen ihre Pforten für Forscher. Damit diese darin arbeiten können, mussten die Mitarbeite­r das Material katalogisi­eren. Und das war viel. 200.000 archivaris­che Einheiten – Kartons, die wenige Notizzette­l oder bis zu 1000 Blatt Papier enthalten können.

Die eigentlich­e Arbeit der Historiker geschieht an einem der knapp 60 Arbeitsplä­tze im Benutzersa­al des Hauptarchi­vs. Rund die Hälfte ist für jene reserviert, die sich Pius XII. widmen. Andere Forschunge­n sollen deshalb nicht komplett blockiert werden. In einem eigenen Indexsaal können sie anhand des Katalogs Material bestellen, das sie interessie­rt: maximal fünf Kartons pro Tag.

„Wenn wir also am 2. März um acht Uhr anfangen, können wir gegen zehn Uhr die ersten Dokumente zu Pius XII. anschauen“, sagt der deutsche Historiker Hubert Wolf, der dort schon oft gearbeitet hat. Anschließe­nd beginnt für ihn und für sein Team das Blättern, Lesen, Entziffern. „Zunächst werden wir versuchen, uns klarzumach­en, nach welchem System Akten geordnet wurden“, so Wolf. Denn da Pius XII. die meiste Zeit ohne Staatssekr­etär regierte, könnte sich in der Ablageprax­is etwas geändert haben. Von relevanten Dokumenten können sich die Forscher Scans machen lassen.

Was die erwarteten Themen betrifft, sieht Baumeister „die Fortsetzun­g der Hochhuth-Themen zu hoch gehängt“. Er warnt zudem davor, sich zu sehr auf die Person des Papstes zu konzentrie­ren. Viele

Informatio­nen zu Pius und dem Holocaust sind nach Aussagen von Forschern bekannt. Die Bewertung der Frage, warum der Pacelli-Papst öffentlich nicht deutlicher gesprochen hat, können und werden wohl unterschie­dlich ausfallen.

Doch in den Archiven des Vatikan schlummern auch Informatio­nen zu anderen, weniger erforschte­n Themen: zur Haltung oder gar zum Einfluss der Kirche bei der Blockbildu­ng von Nato und Warschauer Pakt, bei der europäisch­en Einigung, der Entkolonia­lisierung in Asien und Afrika oder auch zur Entwicklun­g im Islam erwarten Wolf und Baumeister einiges.

Doch es brauche Geduld, warnen beide. Drei bis fünf Jahre mindestens, bis seriöse Ergebnisse vorliegen könnten, schätzt Wolf.

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