Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Das tut man nicht – oder doch?
Seit der überraschenden Wahl des FDP-Politikers Thomas Kemmerich mit AfD-Hilfe ist wieder viel vom Tabubruch die Rede. Ein bequemes Urteil ist das. Was aber ist ein Tabu? Und wer bestimmt das?
Er ist wieder da. Nein, nicht Nazi-Führer Adolf Hitler, der in dem gleichnamigen und in über 40 Sprachen übersetzten Besteller von Timur Vermes eine skurrile Wiederkehr in unsere Gegenwart feiert. Diesmal ist es der Tabubruch, der seit Thüringen wieder von sich Reden macht. Auslöser war unlängst die Wahl des FDP-Politikers Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten des ostdeutschen Bundeslandes. Die war nur möglich mit Stimmen der Rechtspopulisten. Wer dieses Ereignis daraufhin nicht als „Tabubruch“deutscher Politik etikettierte, war entweder im Urlaub oder Thomas Kemmerich selbst. Kurzum: Es herrschte ein breites demokratisches Einverständnis darüber, dass diese Wahlhilfe ein Tabubruch politischer Nachkriegsgeschichte sei.
So weit, so einvernehmlich. Es ist einfach, diesen Vorgang mit nur einem Schlagwort zu belegen und dazu noch seine eigene Position darlegen zu können. Und die ist – weit über Thüringen und die Ministerpräsidentenwahl hinaus – im deutschen Staatsverständnis verankert. Vor dem Hintergrund der Nazi-Verbrechen gehört es zur historischen Verantwortung, dass sich Deutschland für die Sicherheit Israels verpflichtet. Natürlich ist die mit der Kurzwahl in Thüringen nicht gefährdet. Doch sind rassistische und fremdenfeindliche Aussagen ein bedrohlicher Nährboden und ein Anlass, an die Verbrechen zu erinnern. Die Verantwortung für Israels Sicherheit gehört zur deutschen Staatsräson, wie Bundeskanzlerin Angela Merkel oft erklärt. Dies in Frage zu stellen, ist das langlebigste und aus guten Gründen hartnäckigste Tabu der Bundesrepublik.
Wer daran rüttelt, und mag es noch so intellektuell sein, bekommt es mit Ächtung zu tun. Populärstes Beispiel dürfte Martin Walser und dessen Friedenspreisrede von 1998 gewesen sein. In der
Paulskirche zu Frankfurt fragte der Autor, wie die Erinnerung an Auschwitz und Shoa lebendig gehalten und eine Verharmlosung auf Dauer vermieden werde könne. Er bezweifelte, dass dies mit einer permanenten Erinnerung, einer „Dauerpräsentation der Schande“, so Walser, gelingt. Und dieser „Moralkeule“widersetze er sich innerlich. Der Tabubruch war perfekt und der Skandal entsprechend groß. Walser wurde als „geistiger Brandstifter“bezeichnet und steht seither unter Antisemitismus-Verdacht.
Derart beharrlich sind Tabus selten. Denn es gehört zu ihrem Wesen, dass sie nirgendwo niedergeschrieben sind; in keiner Präambel, keiner Verfassung, keinem Verhaltenskodex. Das, was ein Tabu ist, bestimmen letztlich wir, etwas anonymer formuliert: die Gesellschaft. Tabus sind in diesem Sinne die Zaunpfähle, mit denen wir unser soziales und moralisches Zusammenleben einzuhegen versuchen. Es geht letztlich darum, was man tun darf und was nicht. Tabus entspringen einer gesellschaftlichen Übereinkunft.
Da fängt es an, schwierig zu werden. Wer ist das, die Gesellschaft? Wer trifft die Vereinbarung? Wer überprüft sie? Wer darf sie einklagen? Das sind Fragen unserer Zeit und einer offenen Gesellschaft, für die ein Tabu eher als Denkhemmung und als etwas Einengendes empfunden wird. Tabus sind ja keine Gesetze, sie sind eher die ganz kleine Schwester von Verboten – und wie diese empfinden sie manche als nervig.
In der Tat ist es nicht leicht, Tabus zumindest in westlichen Gesellschaften ausfindig zu machen. In der Sexualität? Seit der Studentenrevolte von 1968 haftet jedem Einspruch gegen sexuelle Freizügigkeit etwas Spießiges an. Auch die immer noch größte Moralinstanz in der Gesellschaft ist kein Tabu mehr. Witze über und Kritik an der Kirche sind seit Jahren ganz normal – und das nicht nur in der Karnevalszeit. Unter anderem ist dies die Folge einer zunehmend säkularen Gesellschaft.
Tabus sind stets dem Wandel der Zeit unterworfen; und sie dürften früher bedeutsamer gewesen sein als heute. Der Psychoanalytiker Sigmund Freud (18561939) vermutete, dass Tabus zu den ältesten ungeschriebenen Gesetzeskodices der Menschheit gehören – so schrieb er es in seinem Aufsatz „Totem und Tabu“von 1912. Vielleicht seien Tabus sogar älter als die Götter und wirksam in Zeiten schon vor jeder Religion. Tabus dienten vor allem der Sippe: Jede Übertretung gewisser Tabuverbote konnte eine soziale Gefahr bedeuten.
Seit den revolutionären 68er-Zeiten müssten Tabus eigentlich zur aussterbenden Gattung unserer Moralvorstellung zählen. Das aber stimmt nicht. Kulturwissenschaftler registrieren seit den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts ihre verstärkte Rückkehr. Mit Walser, mit der Debatte um die Stasi-Tätigkeit von Christa Wolf, der Novelle „Im Krebsgang“von Günter Grass, mit der der Nobelpreisträger eigentlich selbst mit einem Tabubruch aufräumen wollte: nämlich auch das Leid deutscher Flüchtlinge im Zweiten Weltkrieg anzuklagen.
Ein deutsches Tabu ist nach wie vor die Frage nach Sterbehilfe. Auch dies ist vor dem Hintergrund der Euthanasie-Morde der Nazis zu sehen. Während in Nachbarländern wie Holland und Belgien Sterbehilfe unter vielen Auflage erlaubt ist, gilt in Deutschland das Verbot. Dieses Tabu wird auch in den Debatten darüber fortbestehen.
Der Tabubruch von Thüringen hat moralisches Argumentieren wieder verstärkt in die Politik zurückgeholt. Tabus bleiben dennoch eine variable Größe, die auch in einzelnen Ländern unterschiedlich gesehen wird. Beispiel: Der Roman „Er ist wieder da“über Hitlers Rückkehr. Darf man so etwas erzählen? Und mit Übertragungen auch noch exportieren? Das wurde in einer Runde von Übersetzern der Brite Jamie Bulloch gefragt. Über Hitler lachen dürfen? Zunächst hielt er diese Frage selbst für einen Witz. Aber natürlich darf man das! „Er ist wieder da“fand er saukomisch und prophezeite in England einen Riesenerfolg. So kam es dann auch.
Tabus sind keine Gesetze, sie sind eher die ganz kleine Schwester von Verboten