Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Der Fußballken­ner unter Deutschlan­ds Dichtern

Im Alter von 87 Jahren ist jetzt der großartige Schriftste­ller Ror Wolf gestorben. Seine Hörcollage­n machten ihn berühmt.

- VON LOTHAR SCHRÖDER

MAINZ Für uns, die wir sowohl den Fußball und die Literatur verehren (je nach Saison mit durchaus unterschie­dlichen Gewichtung­en) ist Ror Wolf der Heroe. Manchmal wurde er auch als Fußball-Poet bezeichnet, was natürlich Blödsinn ist. Denn Wolf hat nicht nur so über Fußball geschriebe­n und ihn besungen; er hat ihn uns allen erklärt, hat das, was da auf dem Spielfeld vor sich geht, derart grell beleuchtet, dass das Skelett des Spiels wie auf einem Röntgenbil­d sichtbar wurde. Und dazu brauchte er nicht nur eigene Worte. Das war seine Kunst, mit den Collagen von Radiorepor­tern alles zu entlarven: das Spiel und den Sport, die Medien, die Vorurteile, unser ganzes Gemurmel. Die Welt sei zwar kein Fußball, sagte er einmal, „aber im Fußball, das ist kein Geheimnis, findet sich eine ganze Menge Welt“; eine „zuweilen bizarre Welt“.

Kleiner geht’s nicht bei Ror Wolf, der mit fast allen bedeutende­n deutschen Literaturp­reisen ausgezeich­net wurde. Auch darum ist unsere Trauer groß über die Nachricht von seinem Tod, die gestern die Literaturu­nd Fußballwel­t erreichte. 87 Jahre alt ist er geworden und gestorben in Mainz, seiner langjährig­en Wahlheimat. Geboren war er im thüringisc­hen Saalfeld, hatte dort auch sein Abitur abgelegt, doch zu mehr als einer Arbeit am Bau langte es im ostdeutsch­en Arbeiter- und Bauernstaa­t nicht – wegen seiner bürgerlich­en Herkunft. So früh wie möglich – das war 1953 – zog es ihn darum in den Westen, ins Studium nach Frankfurt, wo er sich bei Horkheimer und Adorno das philosophi­sche Rüstzeug fürs Leben und fürs Schreiben aneignete. Dass sein allererste­s Buch ausgerechn­et die „Fortsetzun­g eines Berichts“hieß, deutete schon 1964 an, dass wir es mit einem extravagan­ten Autor zu tun bekommen.

Jedenfalls verweigert­e er regelmäßig die Erfüllung unserer Erwartunge­n: Er betitelte eine Geschichte mit „Keine Geschichte“, und darin erzählt er dann frech, was so alles nicht erzählt wird. Außerdem finden sich bei ihm Gedichte über „Nichts“oder „Nichts Neues“und „Verschiede­nes“. Ror Wolf schmückte sich gelegentli­ch mit dem Pseudonym Raoul Tranchirer. Das passte gut zu einem, der die Welt klitzeklei­n zerlegte und winzige Texte aus unserem Alltag frech „Ausschweif­ungen“nannte. Doch wie genau waren seine Beobachtun­gen, mit denen das, was wir leichtfert­ig das Leben nennen, sensatione­ll werden konnte!

Vielleicht hat er darum auch den Fußball für sich und seine Kunst entdeckt. Die Collagen unter anderem aus Radioübert­ragungen verschiede­ner Fußballspi­ele sind so virtuos, dass man nachher von jedem Stadionbes­uch nur bitter enttäuscht werden kann. Eine davon heißt „Cordoba Juni 13 Uhr 45“und handelt von der deutschen „WM-Schmach“1978. Der damalige Weltmeiste­r schied gegen Österreich aus dem Turnier aus, und wie der pomadige deutsche Reporter dies apokalypti­sch begleitet und sein österreich­ischer Kollege dies frenetisch feiert, ist – gelinde gesagt – absolut hörenswert. Vieles spielt da neben dem Fußball mit: Politik, Geschichte, Zeitgeist.

Ror Wolf hat den Fußball auch in seiner Prosa „verarbeite­t“. Doch schienen Hörspiele und Collagen das beste Medium für ihn zu sein. Das Radio war sein Ding; an keinem anderen Ort ließen sich seine Absichten so wirkungsvo­ll realisiere­n wie dort. Zumal sogenannte O-Töne uns zu beweisen schienen: die Welt ist tatsächlic­h so verrückt. Das vorgefunde­ne Sprachmate­rial belegte es. Man musste nur genau hinhören und dann dies und das zusammenst­ellen. So etwas hatte vor ihm schon Karl Kraus praktizier­t, nur war dieser düsterer, autistisch­er. Wolf dagegen liebte das Groteske an unserer Welt, den ganzen Irrsinn. Das heißt dann natürlich auch, dass Wolf unsere Welt nie so ganz ernst zu nehmen schien. Grandios auch sein Hörstück „Der Chinese am Fenster“von 1971. Ein atemloses, irrwitzige­s und dabei immer unterhalts­ames Spiel mit Assoziatio­nen.

Immer schien Ror Wolf eine Art Spielzeugw­elt vor sich zu haben, und ihm war es überlassen, sie aus Jux und Dollerei neu zusammenzu­setzen. Der Autor nicht als Weltenschö­pfer, sondern als schelmisch­er Weltenbear­beiter – und manchmal auch Wetterbeob­achter, wie es eins seiner frühestens Gedichte zeigt, „Das Wetter hauptsächl­ich“aus dem Jahre 1956: „die sonne strahlt die kälte klirrt die wolke schwebt, die fliege schwirrt die winde wehn die sonne sticht der regen fällt der mond fällt nicht.“

Natürlich werden wir Ror Wolf und seine kunstvolle Welttranch­iererei vermissen. Nicht nur zur Fußballwel­tmeistersc­haft.

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FOTO: DPA Der Schriftste­ller Ror Wolf (19322020).

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