Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
„Patient“mit Münchhausen-Syndrom
Ein 55-Jähriger hat Krankenhäuser und Versandhäuser betrogen sowie Identitäten gestohlen. Nun wurde er verurteilt.
WUPPERTAL/REMSCHEID Ins Franziskus Hospital in Bielefeld ließ sich Bernd U. mit dem Rettungswagen chauffieren. Den sollen Passanten gerufen haben, nachdem er auf der Straße bewusstlos zusammengesackt war. In der Klinik aufgenommen wurde er als „Heinrich Traue“– privatversichert, die Behandlungskosten solle man ihm in Rechnung stellen. Einzelzimmer? Dass müsse dann doch nicht sein, da genüge auch ein Zweibettzimmer. Aber den Chefarzt würde er schon gerne sehen. Nach der Entlassung vier Tage später ging es weiter nach Gütersloh – mittlerweile mit einem Doppelnamen: “Heinrich Traue-Steffen“. Wieder im Rettungswagen, auch diesmal ein Notfall. Privatpatient, Zweibettzimmer und der Chefarzt kommt zur Visite.
Drei Wochen später dann die Uniklinik in Düsseldorf: Notaufnahme, irgendwas mit dem Herz. Als man sich die Sache dort genauer anschauen wollte, entließ sich „Bernd Specht“am nächsten Tag selbst – um kurz darauf mit der gleichen Diagnose, aber diesmal als „Ulrich Graf“– im Remscheider Sana-Klinikum vorstellig zu werden. Auch dort kam der Chefarzt, und rechnete später 700 Euro für seine Dienste ab. Auf der Rechnung standen dazu auch noch 2100 Euro Pflegekosten für fünf Tage auf der Privatstation.
Die Entlassung am 23. Dezember 2016 kam unpassend, so kurz vor Weihnachten. Im Wuppertaler Cafe „Extrablatt“brach „Ulrich Graf“noch am selben Tag zusammen. Der Notarzt schickte den Patienten mit dem Rettungswagen ins Helios Klinikum: Verdacht auf Epilepsie. Es folgte die Einweisung in die Neurologie und selbstverständlich wurde er auch dort über die Weihnachtstage vom Chefarzt behandelt. Hätte sich nicht eine Krankenschwester an sein Gesicht und daran erinnert, ihn vor drei Jahren schon mal mit kriminellen Absichten auf der Station ertappt zu haben: Die ganze Geschichte wäre wohl noch nicht zu Ende erzählt. Die couragierte Frau informierte erst ihren Chef und rief dann die Polizei. Als die kam, hatte der Simulant bereits die Flucht ergriffen. Seine Tasche hatte er in der Eile vergessen – und darin fanden die Beamten später Rechnungen
von Onlineversandhäusern und Versicherungen. Denn der Patient hatte sich unter falschem Namen auch noch Pakete in die Kliniken liefern lassen. Per Express-Post, es musste ja schnell gehen. Schließlich musste er sich fix wieder entlassen können, bevor der Schwindel aufflog.
So drei bis vier Tage würde es dauern, bis bei den Versicherungen die Alarmglocken läuten – das will er so in den AGB gelesen haben. Und bis dahin musste er weg sein. Hätte er in Gütersloh nicht auch noch vom Krankenbett aus eine Sex-Hotline angerufen, was dort zur vorzeitigen Abrechnung der Telefonkosten geführt hatte: Er hätte wohl als vermeintlicher Selbstzahler noch ein paar Tage länger bleiben können.
Knochenkrebs, Herzinfarkte und zwei Schlaganfälle? Glaubt man dem psychiatrischen Gutachter, stimmt davon nichts. Wie die Diagnosen in den Krankenakten immer weiter fortgeschrieben werden konnten bis hin zur Annahme, der vermeintliche Patient leide an Krebs und seine Tage seien gezählt? All das habe Bernd U. mit simulierten Krankheitssymptomen und Einweisungen in Krankenhäuser selbst vorangetrieben. Untersuchungen seien entweder nicht gemacht worden oder der betrügerische Simulant sei weg gewesen, bevor der Chefarzt zur Tat schreiten konnte. Auf den Stationen sei er sogar als Schmerzpatient geführt und ihm seien Opiate verabreicht worden. Seine angebliche Drogensucht, wegen der ihn die Rentenversicherung von einem zwischenzeitlichen Haftaufenthalt in eine Entzugsklinik hatte schicken wollen? Auch die stehe zwar in den Akten, sei aber wie auch alles andere keineswegs durch medizinische Befunde belegt.
Auf der Anklagebank sitzend, wollte Bernd U. von all dem nichts hören: Er sei seit den 1990er Jahren abhängig von Heroin, Haschisch und Kokain. Deswegen habe er auch unbedingt weg gewollt aus der Notschlafstelle in der Remscheider „Schüttendelle“, in der er nach dem letzten Haftaufenthalt untergekommen war. Dort hätten alle nur „gekifft und an der Nadel gehangen“. Mehrfach wegen ähnlicher Betrügereien in Haft, sei er zweimal bei einem begleiteten Ausgang aus dem offenen Vollzug rückfällig geworden. Einmal in Bielefeld einem ehrenamtlichen Betreuer und ein anderes Mal sei er in Remscheid bei einem begleiteten Ausgang ausgebüxt – auch dort aus dem offenen Vollzug und in Bahnhofsnähe, als ein Betreuer mit ihm Klamotten für die bevorstehende Entlassung habe kaufen wollen. Untergekommen sei er dann bei einem Bekannten in Remscheid, den er von der Notschlafstelle gekannt habe. Auch zu dessen Anschrift habe er sich weiter Pakete schicken lassen, wie auch an zwei weitere Adressen in Wuppertal. Angeblich, um mit den bestellten Waren und deren Weiterverkauf seine Drogensucht zu finanzieren.
Vom psychiatrischen Gutachter ist dazu zu hören, der Angeklagte leide unter dem Münchhausen-Syndrom und seine angeblichen Krankheiten müssten für Krankenhausaufenthalte und Betrügereien herhalten. Seit mindestens zehn Jahren soll der 55-Jährige mit dieser Masche nicht nur Kliniken und Versicherungen, sondern auch Versandhäuser und diejenigen geprellt haben, deren Identitäten er angenommen hat. In etlichen Fällen soll er auch Mitpatienten bestohlen und mit deren Kreditkarten eingekauft haben. Auch diesmal waren die Krankenhäuser auf ihren Behandlungskosten von 12.000 Euro sitzengeblieben.
Das Wuppertaler Amtsgericht verurteilte den Angeklagten nun wegen gewerbsmäßigen Betrugs und unter Einbeziehung einer einschlägigen Vorstrafe zu vier Jahren Haft.
In Minden dürfte derweil der „echte“Heinrich Traue über all das den Kopf schütteln. Für ihn war Bernd U. über Jahre hinweg ein Phantom geblieben. Im November 2016 hatte der Paketbote zum ersten Mal bei dem Pensionär vor der Türe gestanden mit einem Karton, aus dem Traue kurz darauf ein paar Sportschuhe in Große 42 auspackt. Kurz darauf findet er eine Rechnung vom Sankt-Elisabeth-Hospital in Gütersloh in seinem Briefkasten, dort soll der mittlerweile 68-Jährige vom Krankenzimmer aus für 90 Euro mit Sex-Hotlines telefoniert haben. Im vergangenen Herbst, als Traue mit einem „Zeit“-Reporter über seine Verzweiflung spricht, waren so schon mehrere Zehntausend Euro zusammengekommen. Es folgten die Kreditzusage einer Schweizer Bank und Zahlungsaufforderungen von Inkassounternehmen. Irgendwann erklärt ihm die Schufa, dass er nun nicht mehr kreditwürdig sei. Heinrich Traue muss Mahnverfahren stoppen und überall erklären, dass ein anderer seine Identität gestohlen hat: Bernd U., der nun erst mal seine Haftstrafe absitzen muss. Das Urteil ist noch nichts rechtskräftig.