Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Europas digitales Selbstbewusstsein
Die EU-Kommission will die weltweit ersten Regeln für Künstliche Intelligenz auf den Weg bringen. Diese sollen auch für Giganten wie Google oder Facebook gelten und europäische Nutzer stärken. Ein überfälliger Schritt.
Autonome Autos, vernetzte Patientenakten und Diagnosen beim Arzt, automatische Bildererkennung, sprachgesteuerte Assistenten: Die zahllosen Einsatzgebiete von Künstlicher Intelligenz (KI) basieren auch auf der Tatsache, dass es bislang kaum Einschränkungen oder Hürden in Form von Regeln oder gar Gesetzen gibt. Künstliche Intelligenz basiert auf Daten, menschlichen Daten, so authentisch und persönlich wie möglich. Vielleicht auch deshalb stellte die amerikanische Professorin und Futuristin Amy Webb fest: „Die Privatsphäre ist tot“. Der kanadische KI-Forscher Jean-Francois Gagné drückte es so aus: „Solange der Branche keine Grenzen gesetzt werden, wird sie alle Möglichkeiten, die KI bietet, ausschöpfen. Egal wie ethisch oder moralisch fragwürdig die Entwicklung sein mag.“
Beispiele für etwaige Risiken beim Einsatz von KI gibt es genug. So entwickelte Amazon vor zwei Jahren ein System, das automatisch geeignete Bewerber auswählen sollte. Die Testdaten zur Entwicklung des Algorithmus enthielten allerdings kaum weibliche Bewerber, so dass das System Frauen als ungeeignete Bewerber identifizierte und aussortierte. Geht es nach Plänen der EU-Kommission, würden solche Testdaten künftig zunächst von Behörden auf entsprechende Chancengleichheit und Diversität geprüft.
In Form eines sogenannten „Weißbuchs zur Künstlichen Intelligenz“präsentierte die Kommission am Mittwoch in Brüssel ihr Vorhaben, Künstliche Intelligenz zu stärken und gleichzeitig zu regulieren. So sollen die Fördergelder für Innovationen durch KI-Technologie, für Forschung und Entwicklung, deutlich aufgestockt werden: von 3,2 auf knapp 20 Milliarden Euro pro Jahr. Mittel, die dringend benötigt werden, wenn europäische Tech-Unternehmen
federführend dafür sorgen sollen, dass Europa bis 2050 klimaneutral ist.
Noch elementarer, möglicherweise mit Auswirkungen für die weltweite Branche, sind die Pläne, erstmals klare Regeln für eine sichere und diskriminierungsfreie Nutzung von Datenbeständen aufzustellen. Beispielsweise könnten nationale Behörden künftig Erhebungen aus den Bereichen Gesundheit, Verkehr oder Sicherheit zunächst zertifizieren müssen, bevor sie von Unternehmen für intelligente Systeme genutzt werden dürfen. Bislang schützen die meisten Tech-Konzerne ihre den Algorithmen zu Grunde liegenden Zahlen wie Staatsgeheimnisse.
„Es ist in jedem Fall sinnvoll, endlich Standards zu schaffen. Dadurch könnte ein regulierter Markt geschaffen werden, der weltweit Vorbildcharakter hätte“, sagt Philipp Slusallek vom Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI). Auch das gesellschaftliche Vertrauen in die Technik könnte gesteigert und die Grundrechte der Europäer gesichert werden. Aber: „Die Gefahr ist immer, dass völlig überreguliert und sämtliche Innovation behindert wird“. Entsprechend wichtig sei die Verhältnismäßigkeit der Einschränkungen. „Es muss klare Regel-Unterschiede für junge Start-ups geben, die kleine Pilotprojekte entwickeln wollen, und milliardenschwere Unternehmen, die Technik für Millionen Menschen entwickeln.“
Zustimmung bekommt der Forscher aus der Politik, zum Beispiel vom EU-Abgeordneten Damian Boeselager („Volt“-Partei): „Ich halte eine Regulierung je nach Sensibilität der Daten und Größe des betroffenen Unternehmens für äußerst sinnvoll“, sagt der 31-Jährige, Digitalexperte der Grüne/EFA-Fraktion. Der Bonner CDU-Europaabgeordnete Axel Voss, deutscher Fürsprecher der 2018 verabschiedeten Datenschutzgrundverordnung, stellt klar: „Wir wollen KI nutzen, wir wollen Platz für Innovationen. Aber wir können nicht alles zulassen.“Voss verweist dabei auf einige bedenkliche digitale Entwicklungen der letzten Jahre. „Die heutigen Probleme im Netz mit Hass-Kommentaren und illegalen Verkaufsforen haben bewiesen, dass grenzenlose Freiheit nicht immer sinnvoll ist. Es muss einen Raum geben, in dem Regeln gelten – und das gilt auch für KI-Technologien.“
Aktuell ist Europa vor allem bei der Entwicklung von Robotertechnik stark vertreten, weniger in der massenhaften Erhebung und Weiterverarbeitung von Daten. Hier regieren die Marktführer aus China und den USA, allen voran der Google-Mutterkonzern Alphabet, Amazon und Facebook. Diese Unternehmen können aktuell völlig ohne Regeln agieren. Mit entsprechenden Regulierungen müssten KI-Komponenten in Produkten wie Sprachassistenten oder Smartphones für den europäischen Markt verändert werden, sollen sie auch künftig hier vertrieben werden dürfen. Außerdem könnten Unternehmen gezwungen werden, in Europa erhobene Daten mit anderen Wettbewerbern zu teilen. Etwas, das Binnenmarkt-Kommissar Thierry Breton begrüßen würde: „Es sind nicht wir, die sich an heutige Plattformen anpassen müssen, es sind die Plattformen, die sich an Europa anpassen müssen.“
Die EU ist selbstbewusster geworden, nicht zuletzt ob der internationalen Anerkennung für die Datenschutzgrundverordnung. Einen „europäischen Exportschlager“nennt DFKI-Forscher Slusallek die Regeln zur Verarbeitung persönlicher Nutzerdaten. Unter anderem der US-Bundesstaat Kalifornien nutzte die europäische Vorarbeit, um im vergangenen Jahr ein ähnliches Gesetz zu verabschieden.
Bis zu einem möglichen Regelwerk für die KI wird jedoch noch reichlich Zeit vergehen. In einem nächsten Schritt will die Kommission bis Mitte Mai öffentliche Befragungen zu ihren Plänen durchführen. Eine Entscheidung wird letztlich im EU-Parlament getroffen. Weder Voss noch sein Parlamentskollege Boeselager wagen eine Prognose, wie eine solche Entscheidung letztlich ausgehen kann.
„Nicht Europa muss sich den Plattformen anpassen, die Plattformen müssen sich Europa anpassen“
Thierry Breton EU-Binnenmarkt-Kommissar