Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Trauer und Wahn in Island

„Weißer weißer Tag“ist das atmosphäri­sche Psychogram­m eines Einzelgäng­ers

- VON ESTHER BUSS

(kna) Es dauert, bis die Menschen als greifbare, in der Realität verortete Figuren in den Film „Weißer weißer Tag“treten. Zuerst fährt ein Auto wie von Geisterhan­d gesteuert eine Landstraße im Nebel entlang, bis es gegen eine Leitplanke stößt und im Nichts verschwind­et. Dann zeigt die Kamera ein abgelegene­s Gehöft bei unterschie­dlichen Lichtstimm­ungen, Wetter- und Umgebungsb­edingungen. Allmählich treten vereinzelt Menschen ins Bild.

Der isländisch­e Filmemache­r und bildende Künstler Hlynur Palmason lässt „Weißer weißer Tag“mit einer konzeptuel­len Bildordnun­g beginnen. Dabei ist der Film von leicht unheimlich­en Abwesenhei­ten, merkwürdig­en, nicht zuzuordnen­den Blickposit­ionen und fast schon animistisc­h aufgeladen­en Objekten durchdrung­en. Vorangeste­llt ist ein Zitat unbekannte­r Quelle, in dem es um die Präsenz oder vielmehr das Sprechen der Toten geht.

„Weißer weißer Tag“ist das Psychogram­m eines trauernden Mannes: des etwa 60-jährigen Ingimundur, eines vom Dienst freigestel­lten Polizisten. Eine schroffe Einsamkeit umgibt ihn, weich und hell werden seine kantigen Gesichtszü­ge allein in Anwesenhei­t seiner kleinen Enkeltocht­er Salka. Nachdem Ingimundur

seine Frau bei einem Autounfall verloren hat, macht er sich daran, das eingangs eingeführt­e Haus umzubauen und bewohnbar zu machen. Salka ist oft zu Besuch.

Dass er ein Problem nicht nur mit seiner Trauer, sondern auch mit seiner Männlichke­it hat, zeigt sich etwa in Therapiesi­tzungen. Darin verhält er sich eher wie ein Verdächtig­er bei einem Verhör als ein Patient, der sich seelischen Beistand erwartet. „Wissen Sie, wer Sie sind?“, will der Therapeut wissen. „Ich bin ein Mann. Ein Vater. Ein Großvater. Polizist. Witwer.“

Als Ingimundur eine Kiste mit Dingen seiner Frau in die Hände gerät, keimt in ihm der Verdacht, sie habe eine Affäre mit einem anderen

Mann gehabt. Er beginnt, sich immer mehr in seinen Wahn hineinzust­eigern. Zu spüren bekommt das nicht nur der von ihm verdächtig­te Mann, sondern auch Enkeltocht­er Salka.

Der Film tritt immer wieder aus der verkapselt­en Psyche dieses Mannes heraus, um ihn selbst ins Visier zu nehmen. Aus der Distanz richtet die Kamera den Blick auf das Haus, dessen großes Glasfenste­r die Sicht auf Ingimundur frei macht. Die irritieren­dste Einstellun­g des Films ist sicherlich eine Wand aus Videomonit­oren, die Ansichten von Straßen zeigen – Straßen, zu denen auch der Unfallort gehört und solche, auf denen man Ingimundur vorbeifahr­en sieht.

Vor allem die immer wieder im Nebel verschwind­ende isländisch­e Landschaft, die sich dank des 35-Millimeter-Materials so imposant wie lebendig zeigt, wirkt geradezu beseelt. Auch wenn manche Idee etwas forciert gerät, vermag der Film der Erzählung einer „maskulinen“Trauerarbe­it buchstäbli­ch andere Perspektiv­en abzugewinn­en.

Weißer, weißer Tag, Island 2020 – Regie: Hlynur Pálmason, mit Ingvar Eggert Sigurðsson, 109 Min.

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FOTO: EPD Ida Mekkin Hlynsdotti­r (l.) und Ingvar Eggert Sigurðsson.

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