Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
„Glamour und Kunst gehören zusammen“
Heute beginnt die 70. Berlinale. Carlo Chatrian ist der neue künstlerische Leiter – und sieht sich als Anwalt der Filmkunst.
BERLIN
Auch bei der Berlinale gibt es jetzt eine Doppelspitze: Der künstlerische Leiter Carlo Chatrian verantwortet das Festival zusammen mit Geschäftsführerin Mariette Rissenbeek. Chatrian hat in den vergangenen Monaten über 800 Filme gesichtet und daraus das Programm gebaut. Im Zentrum steht der Wettbewerb um den Goldenen Bären. Daneben gibt es Neuheiten wie die Reihe „Encounters“für ästhetisch außergewöhnliche Filme. Chatrian (48) ist Italiener und hat zuletzt das Filmfest von Locarno geleitet. Ein Gespräch über Kunst, Glamour und die Liebe zum Film.
Sie eröffnen die Berlinale heute mit dem kanadischen Film „My Salinger Year“, der vom Erwachsenwerden erzählt. Stehen Sie selbst am Beginn eines Reifungsprozesses als Leiter der Berlinale?
CHATRIAN
(lacht) Wir wollten mit einem Film beginnen, der positive Energie verströmt. Der uns sagt: Gib niemals deine Träume auf! Bleib dir treu! Es macht immer Spaß, die Geschichte eines Menschen zu verfolgen, der mit großen Erwartungen an einem neuen Ort einen Lebensabschnitt beginnt. Das ist keine Frage des Alters. Dazu ist es eine Geschichte, die von starken Frauen getrieben ist, sie spielt in den 1990er Jahren, erzählt aber auch von der Gegenwart. Außerdem verehre ich Sigourney Weaver. Es ist eine Freude, sie in Berlin zu begrüßen.
Die Berlinale ist ein Fest des Kunstfilms, zugleich aber ein riesiges Publikumsfestival mit zuletzt über 330.000 verkauften Tickets. Wie geht das zusammen?
CHATRIAN
Es ist nichts falsch daran, ein Kunstfilmfestival der A-Klasse und ein Publikumsfestival zu sein. Beides sind positive Dinge. Die Herausforderung liegt darin, beides gleichzeitig zu sein. Aber wir mögen diese Herausforderung.
Die Deutschen schauen immer neidisch nach Cannes und Venedig und vermuten, dass dort die größeren Stars ihre Filme präsentieren.
Dazu haben Sie die Berlinale erstmals hinter die Oscar-Verleihung gelegt. Für den Hollywood-Vermarktungszirkus ist die Saison also schon vorbei. Müssen Sie diesmal mehr um Aufmerksamkeit für die Berlinale kämpfen?
CHATRIAN
Ich denke nicht! In Italien sagen wir: Der Rasen des Nachbarn ist immer grüner. Das Berlinale-Publikum liebt die Berlinale. Und für sie arbeiten wir. Ihnen wollen wir das Beste zeigen, das wir finden konnten. Die besten Filme, die besten Schauspieler.
Ein Festivalprogramm ist ja selbst ein Kunstwerk. Was haben Sie für ein Werk geschaffen?
CHATRIAN
Mir geht es nicht darum, eine eigene Handschrift zu zeigen. Ich frage mich bei jedem Film, ob ich gern noch ein wenig Zeit mit ihm verbracht hätte und warum? Wenn ich darauf gute Antworten finde, lade ich den Film ein. Denn dann hat er genügend Gehalt, um in den Menschen zu arbeiten. Natürlich
steht hinter jedem Film, den wir auswählen, ein anderer, den wir nicht ausgewählt haben. Aber ein guter Film lässt einen vergessen, dass es andere Optionen gegeben hätte. Ein Programm zu gestalten ist kein Spiel, bei dem man alle
Karten auf den Tisch legt und auswählt. Es ist ein Prozess. Ich möchte Filmkunst unterstützen und durch die Auswahl zeigen, wohin sich das Kino entwickelt.
Sie haben 800 Filme gesichtet. Wohin bewegt sich das Kino?
CHATRIAN
Mein Gehirn ist noch vollgesogen mit Bildern und Geräuschen. Ich brauche noch Distanz, aber ich kann sagen, dass das Kino mir sehr lebendig und pulsierend erscheint. Es vertraut in die Kraft des Geschichtenerzählens und setzt sich selbst keine Grenzen. Selbst Filme, die von schmerzlichen, schrecklichen Situationen erzählen, geben das Vertrauen in die Menschlichkeit nicht auf.
Und welche Zukunft sehen Sie für Festivals, wenn es durch die Digitalisierung immer leichter wird, jeden Film, jederzeit daheim schauen zu können?
CHATRIAN
Es wird immer das Bedürfnis geben, sich in Verbindung zu setzen – mit Geschichten und mit anderen Menschen. Festivals verbinden Menschen, sie machen aus Zuschauern ein Publikum und auch eine Gemeinschaft von Filmliebhabern.
Diese Gemeinschaft könnte sich in Zukunft auch digital vernetzen.
CHATRIAN
Es geht aber nicht nur um die Kanäle, in denen Filme in Zukunft ausgespielt werden könnten. Es geht um das Bedürfnis nach Austausch. Man möchte seine Eindrücke mit anderen teilen – im Gespräch. Selbst wenn meine Kinder einen Film auf ihrem Mobiltelefon gesehen haben, wollen sie hinterher mit ihren Freunden darüber reden. Dieses Bedürfnis wird bleiben. Denn es geht beim Filmschauen nicht darum, Daten zu beziehen. Es geht um die Emotionen, die der Film auslöst.
Berlinale-Chef Dieter Kosslick war ein väterlicher Festivalchef mit rotem Schal und guter Laune. Welche Art von Gastgeber wollen Sie sein?
CHATRIAN
Darüber denke ich nicht nach. Ich werde ich selbst sein, keine Kunstfigur erfinden – das werden die Medien hinterher tun, wenn sie mich beschreiben.
Sie haben Reihen wie das Kulinarische Kino gestrichen. Warum?
CHATRIAN
Weil es für solche Themen keine eigene Reihe braucht. Essen kann Identität und Kultur ausdrücken und es gibt tolle Filme darüber, aber die können in anderen Sektionen genauso auftauchen, wenn sie die Qualität besitzen. Wir wollen nicht, dass uns Reihen dazu anhalten, Filme nach Themen auszuwählen, sondern weil sie ungewöhnlich gemacht sind und die Gegenwart des Filmemachens spiegeln.
Viele erhoffen sich von Ihnen eine Berlinale, die sich wieder auf künstlerisch herausragende Werke konzentriert, andere fürchten, der Glamourfaktor könne zu kurz kommen. Wie wichtig sind Stars für ein Festival?
CHATRIAN
Stars sind wichtig. Aber darin liegt kein Gegensatz zur Kunst. Stars sind Künstler, sie stellen ihre Fähigkeiten in den Dienst der Filmkunst. Glamour und Kunst gehören zusammen. Es wird bei der 70. Berlinale genauso viele Stars geben wie in den Jahren zuvor. Johnny Depp kommt, Cate Blanchett, Elle Fanning, Javier Bardem, Willem Dafoe und so fort. Aber der wirkliche Glamour der Berlinale ist das Publikum. Die Zuschauer sind neugierig, offen, und es geht ihnen um den Film. Sie sind der wahre Edelstein dieses Festivals.
Wenn Sie heute Abend auf dem Roten Teppich stehen, beginnt dann die Arbeit oder ist sie geschafft?
CHATRIAN
Sie beginnt. Wir haben hart gearbeitet, haben für die Vorbereitung alles gegeben, aber nun wollen Mariette Rissenbeek und ich mit unseren Gästen und dem Publikum den Film feiern.