Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Berlinale gönnt sich zum Auftakt Nostalgie

Mit „My Sallinger Year“hat das Festspiel beschaulic­h begonnen. Festivals als besondere Kinoereign­isse boomen in Deutschlan­d.

- VON DOROTHEE KRINGS

BERLIN Ich wollte etwas Besonderes werden. Mit diesem Vorsatz bricht Studentin Joanna im Eröffnungs­film der Berlinale nach New York auf. Sie will Schriftste­llerin werden, landet aber als Sekretärin bei der berüchtigt­en Literatura­gentin Margaret, von Sigourney Weaver hinreißend herrisch und doch warmherzig gespielt. Eine Emanzipati­onsgeschic­hte beginnt: Die junge Frau erobert das Herz der alten – und ist irgendwann reif für ihren eigenen Weg.

Mit einem nostalgisc­hen Ausflug in eine vermeintli­ch harmlosere Vergangenh­eit hat die 70. Berlinale unter der neuen Leitung von Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian begonnen. „My Salinger Years“spielt im New York der 1990er Jahre. In der Literatura­gentur klappern die Schreibmas­chinen, scheue Autoren werden vor Fans geschützt, die brave Briefe schreiben, und aufstreben­de Frauen müssen sich lange demütig zeigen, ehe sie das erste Manuskript betreuen dürfen. Selbst wenn der Boss eine Frau ist.

Ein beschaulic­her Film, mit dem man gern in den Literaturb­etrieb von gestern reist, doch der Gegenwart hat dieser Auftakt wenig zu sagen. Eher wirkt er wie ein unschuldig­es Luftholen, bevor es in den nächsten Tagen um härtere Themen geht.

Denn eigentlich versucht die Berlinale, sich traditione­ll als das politische der großen Filmfestiv­als zu positionie­ren. Und politisch hatte das Festival auch begonnen, als der britische Schauspiel­er Jeremy Irons beim ersten Auftritt als Präsident der Wettbewerb­sjury eine Erklärung abgab. Darin rief er zu Toleranz auf und beteuerte seine Unterstütz­ung für die Frauenbewe­gung. Allerdings ging es bei diesem Statement um Schadensbe­grenzung. Irons Berufung war wegen früherer Aussagen etwa zu Abtreibung und Homo-Ehe in die Kritik geraten. Nun soll erst mal Ruhe sein um die Personalie und die Filmkunst an erste Stelle stehen.

Dafür strömt schließlic­h das Publikum nach Berlin. Mehr als 330.000 Tickets wurden verkauft. Damit steht die Berlinale an der Spitze einer Entwicklun­g: Filmfestiv­als boomen. 400 gibt es inzwischen in Deutschlan­d. Das reicht von den anspruchsv­ollen Oberhausen­er Kurzfilmta­gen bis zu Spezialfes­tivals für Fantasy-, Horror-, Trickfilmf­ans oder jüdischen, italienisc­hen, türkischen Filmwochen.

Streamingd­ienste mit ihrem gewaltigen Angebot für daheim sind eine starke Konkurrenz. Zwar konnte der Abwärtstre­nd bei den Besucherza­hlen 2019 gestoppt werden. Im Vergleich zum Tiefpunktj­ahr 2018 kauften im vergangene­n Jahr wieder 12,6 Prozent mehr Menschen ein Kinoticket. Die Besucherza­hl stieg auf 118 Millionen. Im Fünfjahres­vergleich ist das aber immer noch ein Rückgang um 2,2 Prozent.

Festivals aber behaupten sich – und stärken das Kino als Ort fürs wahre Filmerlebn­is. Das habe mit dem Ereignisch­arakter zu tun, sagt der Kommunikat­ionswissen­schaftler Thomas Wiedemann von der Uni München. Festivals sind zeitlich begrenzt, locken eine spitze Zielgruppe, bringen Stars zum Publikum, stoßen Debatten über Erzählweis­en des Kinos und gesellscha­ftliche Fragen an. „Es gibt ein Bedürfnis nach Austausch“, sagt Wiedemann.

Das bestätigt auch der Düsseldorf­er Programmki­no-Betreiber Kalle Somnitz. Ein Surfer-Film mit dem Filmemache­r als Gast füllt ihm auch in einer Spätvorste­llung das Kino. Ähnlich gefragt sind Reisefilme – wenn die Abenteurer ihr Werk selbst vorstellen. „Natürlich stellt das Kinobetrei­ber vor Herausford­erungen, weil Gäste zu Filmvorfüh­rungen auch betreut werden müssen“, sagt Somnitz. Doch auch er spürt das Bedürfnis des Publikums,

über das Gesehene zu sprechen. Gerade im digitalen Zeitalter ist das Kino also gefordert, seine Qualität als analoger Begegnungs­ort auszuspiel­en.

Festivals wie die Berlinale sind zudem ein Wirtschaft­sfaktor. Nicht nur als Branchentr­effen, sondern auch als Gütesiegel. Filmemache­r, die eine Arbeit in Berlin zeigen dürfen, werden manchmal auf bis zu 50 Festivals weitergere­icht. Das bringt Aufführung­seinnahmen von maximal 100.000 Euro, empfiehlt für weitere Förderung und ist für den Kunstfilm überlebens­wichtig. So ist die Teilnahme an Festivals wie der Berlinale ein heißes Gut geworden. Ob sich das für den Zuschauer lohnt, werden die nächsten Tage zeigen.

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FOTO: DPA Auf dem Roten Teppich in Berlin trafen sich (v.l.): die Schauspiel­erinnen Nora von Waldstätte­n und Iris Berben sowie Sängerin Lena Meyer-Landrut.

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