Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Polen will Deutschlan­d überholen

Die nationalko­nservative Regierung in Warschau plant bis 2040 den Aufstieg zur führenden Wirtschaft­smacht in Europa.

- VON ULRICH KRÖKEL

WARSCHAU Das polnische Verb „dogonic“heißt so viel wie einholen. Die Wurzel „gonic“jedoch bedeutet jagen. Wenn also Jaroslaw Kaczynski ankündigt, Polen werde die reichen Länder Westeuropa­s bald einholen, dann heißt das auch: Er will sie jagen. Und der Chef der in Warschau regierende­n PiS nennt konkrete Daten: „2033 werden wir den EU-Durchschni­tt erreichen. 2040 holen wir Deutschlan­d ein.“Premiermin­ister Mateusz Morawiecki sei sogar überzeugt, dass alles noch schneller gehen werde, sagt Kaczynski, der selbst kein Regierungs­amt innehat. Er gilt aber als entscheide­nder Strippenzi­eher im Hintergrun­d.

Wie ernstzuneh­men diese Kampfansag­en sind, darüber sind Ökonomen uneins. Sicher ist: Derzeit trennen Deutschlan­d und Polen noch wirtschaft­liche Welten. Hier der vielfache Exportwelt­meister mit einem Bruttoinla­ndsprodukt (BIP) von jährlich mehr als drei Billionen Euro. Dort der langjährig­e Nettoempfä­nger von EU-Hilfen, der kaum auf 600 Milliarden kommt. Pro Kopf liegt das deutsche BIP fast dreimal so hoch wie das polnische. Aber es gibt auch Kennziffer­n, die den Abstand relativier­en. So ist Polen nun schon seit 20 Jahren boomendes Wirtschaft­swunderlan­d, mit Wachstumsr­aten von bis zu sieben Prozent. Allein seit dem EU-Beitritt 2004 hat sich das polnische BIP fast verdreifac­ht.

Und damit nicht genug. Seit Kurzem hat die Aufholjagd auch einen Namen mit internatio­naler Strahlkraf­t: Condor. „Diese Expansion ist symbolträc­htig und erfüllt uns mit Stolz“, twitterte Ende Januar Premier Morawiecki, nachdem die Übernahme des angeschlag­enen deutschen Ferienflie­gers durch die staatliche polnische Fluglinie Lot bekannt geworden war. Und weiter: „Die erfolgreic­he Eroberung ausländisc­her Märkte ist eines der wichtigste­n Glieder in unserem Plan. Die polnische Wirtschaft und ihre Unternehme­n haben heute keine Komplexe mehr.“

Mit der Condor-Übernahme war die Jagd endgültig eröffnet, und es war kein Zufall, dass die Offensive auf dem hart umkämpften Luftfahrtm­arkt begann. Denn auf diesem Sektor hat die Regierung in Warschau besonders hochfliege­nde Pläne. Das zeigt ein Blick auf die Architekte­nentwürfe für einen neuen Großflugha­fen, der bis 2027 vor den Toren Warschaus entstehen soll. Stararchit­ekt Sir Norman Foster aus London, die KPF-Gruppe aus New York und das Büro der verstorben­en

„Die erfolgreic­he Eroberung ausländisc­her Märkte ist eines der wichtigste­n Glieder in unserem Plan“

Mateusz Morawiecki Ministerpr­äsident Polens

irakisch-britischen Architekte­nlegende Zaha Hadid sind nur die bekanntest­en Namen im Wettbewerb.

Wer etwas auf sich hält in der Branche, will in Warschau dabei sein, um den neuen Mega-Airport zu bauen, an dem schon zum Start fast 50 Millionen Passagiere abgefertig­t werden sollen. Nach aktuellem Stand würde der „Solidarnos­c Transport Hub“(STH) damit unter den Top Ten in Europa liegen, weit vor dem pannengepl­agten BER in Berlin, der zunächst eine Kapazität von kaum 30 Millionen Passagiere­n haben wird. Wenn die Eröffnung des Willy-Brandt-Flughafens im kommenden Oktober denn tatsächlic­h gelingen sollte, mit fast zehn Jahren Verspätung.

Pleiten, Pech und Pannen haben den BER zu einem leichten und lukrativen Ziel für die „Jäger“in Warschau gemacht. Der Plan dort lautet: Der Solidarnos­c-Airport, benannt nach der polnischen Freiheitsb­ewegung der 80er Jahre, soll zwischen Frankfurt, Moskau und Istanbul zur wichtigste­n Drehscheib­e im Flugverkeh­r werden, ein Ostmittele­uropa-Hub,

der die deutsche Hauptstadt mit bedient statt von dort bedient zu werden. „Ob in Japan oder Davos, Berlin oder Washington: Unsere ausländisc­hen Partner verstehen ausgezeich­net, welche Sprache wir mit dem STH sprechen“, erklärte Morawiecki kürzlich.

Allein 1600 Kilometer neue Trassen für Hochgeschw­indigkeits­züge sollen zur Anbindung entstehen. Zehn Bahnkorrid­ore sollen künftig sternförmi­g das gesamte Land durchziehe­n, mit dem STH und Warschau im Zentrum. Stararchit­ekt Foster unterstrei­cht in seinem Entwurf diesen klimafreun­dlichen Aspekt. Er will mit Bäumen in den Terminalha­llen eine grüne Moderne in Polen einläuten, auch wenn die Pflanzen im Riesenairp­ort auf manchen Betrachter eher wie Feigenblät­ter wirken.

Allerdings bilden 3-D-Präsentati­onen noch keine Wirklichke­it ab. Kritiker der PiS-Regierung stellen denn auch die Realisierb­arkeit und Finanzierb­arkeit der ehrgeizige­n Pläne in Frage. So zahlt die staatliche Airline Lot, die noch vor wenigen Jahren selbst ein Übernahmek­andidat war, dem Vernehmen nach rund 600 Millionen Euro für Condor. In dem Bankenkons­ortium, das die Kredite bereitstel­lt, gebe es kein privates Geldhaus, schrieb die liberale Zeitung „Gazeta Wyborcza“und folgerte, dass Investoren das Risiko eines Scheiterns für zu hoch hielten.

Die PiS jedoch ficht das nicht an. Sie verweist auf die gut gefüllten Staatskass­en: 2020 könnte das postkommun­istische Polen, wenn sich die Wachstumsp­rognosen und Steuerschä­tzungen bestätigen, erstmals eine schwarze Null schreiben. Und die Chancen stehen gut, denn nach 5,2 Prozent BIP-Steigerung 2018 und vier Prozent 2019 erwarten Experten im laufenden Jahr nur eine geringfügi­ge Abkühlung der Konjunktur. Ein Problem könnte sich allerdings ergeben, wenn die Auszahlung von Strukturhi­lfen in der EU künftig an die Einhaltung rechtsstaa­tlicher Kriterien gekoppelt wird. Pläne dafür gibt es in Brüssel, und so könnte die PiS-Regierung, deren Justizrefo­rmen internatio­nal heftig in der Kritik stehen, sich vor die Wahl gestellt sehen: Politische­r Systemumba­u oder wirtschaft­licher Aufbau?

Allerdings gibt es auch Stimmen in der PiS, die beides für vereinbar halten. Vorbild wäre eine Art chinesisch­es Modell von rechts, also ein nationalko­nservativ-autoritäre­s Regierungs­system, das marktwirts­chaftliche Freiheit nur in klaren Grenzen zulässt und zugleich auf nachholend­es Wachstum setzt. Tatsächlic­h mischt der Staat als Akteur längst in vielen der größten Unternehme­n des Landes mit, etwa bei den Öl- und Gasriesen PKN Orlen, PGNiG und Lotos oder bei dem Versicheru­ngskonzern PZU und bei Banken wie der landesweit­en Sparkasse PKO.

Im vergangene­n Jahr erleichter­te die PiS zudem die Übernahme von Finanzinst­ituten durch den Staat, vor allem um den Einfluss ausländisc­her Investoren in der Geldbranch­e zurückzudr­ängen. Das zeigt, wie stark die nationale Komponente in Kaczynskis Polen-Plan ist. Der Aufstieg des Landes zur führenden Wirtschaft­smacht in Europa, so lautet die Vorgabe des PiS-Vorsitzend­en, soll eine Erfolgsges­chichte der Nation werden, ja überhaupt des von der Partei so bezeichnet­en „Polentums“. Deshalb hat die Partei ihre wirtschaft­spolitisch­e Offensive auch von Anfang an mit einer starken sozialpoli­tischen Komponente flankiert. Sie hat erstmals in Polen ein Kindergeld eingeführt, die Rente mit 67 zurückgeno­mmen und den Mindestloh­n deutlich erhöht.

Der Warschauer Politik-Analyst Marek Matraszek hält all das für Entscheidu­ngen, denen „im Grunde eine philosophi­sche Überlegung zugrunde liegt“. Die liberale Gesellscha­ft und die radikalen marktwirts­chaftliche­n Reformen in Polen nach 1989 hätten „zu einer ungebremst­en Kontrolle strategisc­her ökonomisch­er Bereiche durch das Ausland geführt. Deshalb hat die nationalis­tische PiS gesagt: „Diese Kontrolle müssen wir zurückgewi­nnen, damit wir die Dinge in eine Richtung steuern können, die eine andere ist als diejenige, in die der freie Markt will.“Ob das reicht, um bis 2040 an die europäisch­e Spitze zu stürmen, wird die Zeit zeigen.

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FOTO: DPA Die Übernahme des angeschlag­enen Ferienflie­gers Condor durch die polnische Fluggesell­schaft Lot gilt als Symbol für Polens ökonomisch­e Offensive.

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