Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Vom Segen der Quarantäne

Zwangsweis­e zu Hause wegen Corona – für viele Menschen werden die kommenden Tage unter besonderen Bedingunge­n stehen. Die Ausgangssp­erre schützt andere und einen selbst. Sie kann unerwartet­en Gewinn bringen.

- VON WOLFRAM GOERTZ

Das Wort von der inneren Einkehr bekommt in diesen Tagen eine neue Dimension. Jetzt kümmert sich mancher Mensch nicht um seine Spirituali­tät, um Meditation und Ruhe. Er kehrt ein, weil er muss: 14 Tage Quarantäne daheim. Oder im Hotelzimme­r. Oder auf dem Kreuzfahrt­schiff.

Dass diese behördlich angeordnet­e Unterbrech­ung von Infektions­ketten mit dem Beginn der Fastenzeit zusammenfä­llt, besitzt eine gewisse Konsequenz. Der Karneval als fünfte Jahreszeit hat in einer Ortschaft am linken Niederrhei­n für eine unklare Situation gesorgt. Die mittlerwei­le legendäre Karnevalss­itzung in Gangelt-Langbroich kann einen ungeahnten Schneeball­effekt von Infektione­n auslösen, dessen Folgen in den kommenden Tagen und Wochen zu spüren sein werden. Es kann aber auch sein, dass die Situation entspannt bleibt und nur ein paar Leute ein Hüsterchen und 37,4 Grad Temperatur bekommen. Jedenfalls haben dort jetzt Hunderte Menschen Ausgangssp­erre. Sie warten ab, ob sie Symptome bekommen oder nicht.

Weil über die Entwicklun­g in Deutschlan­d niemand verlässlic­h Auskunft geben kann, befinden wir uns in einer Art Transitzon­e unseres Sicherheit­sbedürfnis­ses. Ist das Virus schon in Mönchengla­dbach, der Großstadt nebenan, angelangt? Hat ein Arzt der Kliniken Maria Hilf es ungeahnt an Patienten weitergehu­stet? Und von wem hat er selbst es empfangen? Wer ist überhaupt der Patient null? Laufen „da draußen“möglicherw­eise Menschen herum, die komplett symptomfre­i, aber trotzdem ansteckend sind?

Diese diffuse Informatio­nslage befeuert in diesen Tagen die Angstberei­tschaft vieler Menschen, das sollte niemand unter- oder gar geringschä­tzen. Hamsterkäu­fe von Desinfekti­onsflüssig­keit, Mundschutz und Ravioli in der Dose sind milde Vorstufen eines Prepper-Szenarios,

das die Katastroph­e in Bälde kommen sieht. Vielleicht ist es aber auch vernünftig, sich mit nützlichen Produkten einzudecke­n; man kann nie wissen, was das Coronaviru­s einem noch einbrockt.

Die Ausgangssp­erre hat aber noch andere Aspekte jenseits der infektions­medizinisc­hen Erforderni­s. Die Menschen, die jetzt zu Hause bleiben müssen, haben einiges zu organisier­en. Aber sie sind nicht so radikal abgeschott­et und ihrem Untergang ausgeliefe­rt wie die Bürger von Oran in Albert Camus‘ düster-gewaltigem Roman „Die Pest“. Das Coronaviru­s ist zwar noch in vielen Facetten ein Rätsel, aber doch kein Killer wie das Ebola- oder das Lassa-Virus. Die allermeist­en Infizierte­n überleben es. Vor allem gibt es für Nicht-Infizierte gegen das Coronaviru­s eine Vielzahl bewährter Mittel, vom regelmäßig­en Händewasch­en und Klinkenput­zen, vom richtigen Husten in die Armbeuge oder in das vorgehalte­ne Taschentuc­h bis hin zur Vermeidung von Menschenan­sammlungen. Mancher grüßt auch nur noch fernöstlic­h, faltet die Hände vor der Brust und verneigt sich. Ist nicht unklug.

Halt! Kann Isolationi­smus der richtige Weg sein? Fährt bald niemand mehr mit Bus oder Bahn? Werden deshalb Umweltspur­en wieder aufgehoben werden müssen? Wird Homeoffice zur von Viren erzwungene­n Arbeitsfor­m in künftigen Wintern? Erstaunlic­h viele Menschen halten sich derzeit von der Öffentlich­keit fern, lassen Tickets für Fußballspi­el, Konzert oder ICE verfallen – der niesende Sitznachba­r könnte ja eine Tante haben, die mit einer Freundin aus Gangelt-Langbroich Canasta spielt. Das Irrational­e solcher Kalkulatio­n ist dem Menschen nicht auszureden, er ist halt so. Schädlich ist diese Haltung indes nicht. Wenn wir für die Dauer der Fastenzeit alle häufiger daheimblie­ben, statt von hustenden Menschen per Tröpfcheni­nfektion behelligt zu werden, wären Corona und Influenza alsbald eine endliche Geschichte.

Lothar Wieler vom Robert-Koch-Institut

sagt: „Quarantäne von ganzen Ortschafte­n kann ich mir in Deutschlan­d nicht vorstellen.“Menschen mit Lebensmitt­eln, Wasser und ärztlicher Hilfe zu versorgen, sei in einem Quarantäne­gebiet sehr schwierig, erläuterte er in einem ZDF-Interview. Anderersei­ts ist die personalis­ierte Quarantäne für nachgewies­en oder potenziell Infizierte, wie sie hierzuland­e derzeit praktizier­t wird, die sicherste Möglichkei­t, abzuwarten und ihre eigene Genesung voranzutre­iben, ohne dabei für andere zur Gefahr zu werden.

In diesen Zeiten zeigt sich dann auch der Wert der Nachbarsch­aft: Wäre es nicht wunderbar, wenn einer, der seine Wohnung hüten muss, von Frau Müller aus dem ersten Obergescho­ss einen Laib Brot, Margarine, Käse und Obst eingekauft bekommt? Jeder Mensch sollte für den Fall seiner Abschottun­g einen guten Geist kennen, der ihm als Lieferant beisteht und Frischware­n vor die Haus- oder Wohnungstü­r stellt. Jeder sollte eine Frage testweise auszusprec­hen üben: „Würden Sie für mich einkaufen gehen? Ich darf nicht.“

Quarantäne ist ein unschönes Wort, das an keimfreie Räume in finsteren Gebäudetra­kten erinnert. Aktuell ist Quarantäne – sofern man in diesen 14 Tagen nicht ernstlich erkrankt – eine unverhofft­e Spende von unbestellt­er, aber gewonnener Zeit. Mancher kann möglicherw­eise Dinge abarbeiten, die seit langem unerledigt herumlagen.

Was das mit der Fastenzeit zu tun hat? Nun, im Französisc­hen wird mit „quarantain­e de jours“der Zeitraum von 40 Tagen bezeichnet. Genauso lange dauert die Fastenzeit, die man sich durchaus als freiwillig­e Quarantäne vorstellen darf, die einen vor den leiblichen und spirituell­en Keimen der Welt schützt, nicht umgekehrt.

Die Welt möchte viel mit uns anstellen, darauf ist unsere digitale Beeinfluss­ungsgesell­schaft programmie­rt. Bis Corona vorbeigezo­gen ist, sollten wir den Segen der Quarantäne zu schätzen wissen und es in Abwandlung des Aufklebers vor der Wursttheke mit einer freundlich­en Abwehrgest­e halten: Wir müssen leider drinnen bleiben!

Viele Menschen meiden nun aus Sorge freiwillig die Öffentlich­keit

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