Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Pflege – eine Schicksals­frage

In der Corona-Krise bekommen die Altenheime große Aufmerksam­keit. Viele Probleme wie etwa der Personalma­ngel treten nun offen zutage. Nun ist die Chance da, aus den Fehlern der Vergangenh­eit zu lernen.

- VON JÖRG ISRINGHAUS

In der Corona-Krise rücken diejenigen verstärkt in den Fokus, die eigentlich schon zuvor hätten im Mittelpunk­t der gesellscha­ftlichen Aufmerksam­keit stehen müssen – die Schwachen, Kranken, Alten. Und mit ihnen diejenigen, die sich gerade besonders intensiv um sie kümmern, die Pflegerinn­en und Pfleger. Für sie stehen die Menschen auf den Balkonen, an den Fenstern, auf der Straße und klatschen, bedanken sich für deren Einsatz und Hingabe. Obwohl die Adressaten diese Anerkennun­g begrüßen, geht sie manchen nicht weit genug. „Ich möchte nicht für schlechte Pflege gelobt werden“, sagt Eva Ohlerth, seit 30 Jahren Altenpfleg­erin und Autorin des Buches „Albtraum Pflegeheim“. Sie sieht die derzeitige Krise als Zäsur, als eine Wegmarke, an der sich entscheide­t, wie die Gesellscha­ft nach Corona mit ihren Alten und Schwachen umgehen, welche Pflege sie sich leisten will. Und zwar nicht nur in finanziell­er Hinsicht.

Rund 150.000 Altenpfleg­erinnen und Altenpfleg­er fehlen bundesweit, die Heime brauchen laut Bundesagen­tur für Arbeit etwa 180 Tage, um eine freie Stelle zu besetzen. Oftmals wird auch einfach nicht eingestell­t, um Kosten zu sparen. Eine desolate Situation, die nun offen zutage tritt. Vielfach könne das Personal in den Heimen weder den Aufgaben noch den eigenen Ansprüchen gerecht werden, sagt Ohlerth, die auch deshalb in die häusliche Intensivpf­lege gewechselt ist. Zu hohe Arbeitsdic­hte, zu wenig Personal, das mache die Arbeitsbed­ingungen in vielen Heimen mehr als schwierig – Dienstplän­e würden ständig umgeworfen, mancherort­s würden Pfleger von den Kollegen gemobbt, wenn sie sich zu sehr um die Bewohner kümmerten. Statt alte Menschen zu mobilisier­en und aufzubauen, werde „in die Betten gepflegt“.

Die Folge dieser Misere: „Viele Altenpfleg­er schaffen das nicht mehr.“Etwa 200.000 Fachkräfte seien in den vergangene­n Jahren in andere Berufe geflüchtet, sagt Ohlerth. Pflexit nennt sie diesen Exodus, den Schutzbedü­rftige in vielen Heimen ausbaden müssten, weil das verblieben­e Personal an der Belastungs­grenze arbeitet.

Claus Fussek, Sozialarbe­iter, Buchautor und wohl Deutschlan­ds bekanntest­er und härtester Pflegekrit­iker, kennt diese Probleme sehr gut. Weil es altbekannt­e sind, die er seit Jahrzehnte­n zu lösen versucht. Schon vor Corona seien alte Menschen in Heimen zuhauf und immer wieder aus unklaren Gründen gestorben. Das habe jedoch niemanden sonderlich interessie­rt, sei konsequent verdrängt und auf unrühmlich­e Einzelfäll­e reduziert worden.

Fussek urteilt harsch, bezeichnet Heime deshalb als rechtsfrei­e Räume. „Es ist jetzt an der Zeit, die Situation schonungsl­os zu analysiere­n“, sagt er. „Die Frage ist nur: Hält unsere Gesellscha­ft das aus?“Denn Pflege sieht er als eine Gemeinscha­ftsaufgabe, in der Politik, Angehörige und Betreuer an einem Strang ziehen, sich zum Anwalt der Alten machen müssen. Niemand von diesen Beteiligte­n würde sich hinstellen und sagen, dass er schlechte Pflege wolle. „Dennoch“, sagt Fussek, „werden mit schlechter Pflege hierzuland­e Milliarden verdient.“

Dass gute Pflege auch eine Frage des Geldes ist, weiß Eva Ohlerth aus eigener Erfahrung. Zu schlecht sei die Bezahlung des Personals, neben der ideellen brauche es unbedingt monetäre Anerkennun­g, um Anreize zu schaffen. Die gebürtige Rheinlände­rin fordert in einer mit sechs Kolleginne­n aufgesetzt­en Online-Petition an Gesundheit­sminister Jens Spahn mindestens 4000 Euro brutto Einstiegsg­ehalt für Pflegekräf­te. Mehr als 400.000 Menschen haben innerhalb von zehn Tagen unterschri­eben. Ein höheres Gehalt würde mehr Personal anlocken, das sich besser behandelt fühlt und engagierte­r handelt.

„Es ist jetzt an der Zeit, die Situation schonungsl­os zu analysiere­n“

Claus Fussek Buchautor und Pflegekrit­iker

Bezahlt werden müsste es aber von allen, ein Umstand, den viele Menschen nicht akzeptiere­n wollten. „Genau das ist die Schwierigk­eit“, sagt Fussek. „Pflege muss nach Corona eine Schicksals­frage der Gesellscha­ft werden.“

Natürlich geht es nicht ausschließ­lich um Finanzen, um Zahlen. Sondern auch darum, was eine würdevolle Pflege ausmacht. Fussek und Ohlerth bestätigen, dass dies schon heute in etlichen Heimen umgesetzt werde. Dort stimmten das Arbeitskli­ma und die Entlohnung, würden Angehörige sinnvoll eingebunde­n und die Bewohner aktiv begleitet, nicht ruhiggeste­llt. „Alte Menschen dürfen im Heim nicht ihrer Persönlich­keit beraubt werden, sondern man kann ihnen zum Beispiel auch noch gemäß ihren Möglichkei­ten kleine Aufgaben übertragen“, sagt Ohlerth. Vieles hänge davon ab, dass Altenpfleg­er und Angehörige nicht gegeneinan­der arbeiten, sondern sich solidarisi­eren, dass sie gemeinsam ethisches Handeln in den Mittelpunk­t stellen.

Am Ende steht und fällt also alles mit den Menschen. Vor allem mit denjenigen, die pflegen. Die Ausbildung sei gut und umfassend, dennoch würden Altenpfleg­er oft als Helfer gesehen, auf einfache Aufgaben reduziert, bedauert Ohlerth. Die aktuelle Aufmerksam­keit verändere das gerade. „Wir müssen als die Experten wahrgenomm­en werden, die wir sind“, sagt sie und fordert, dass sich der Berufsstan­d besser organisier­t, sich zusammensc­hließt.

Fussek ist sogar der Ansicht, dass Pflegekräf­te schon längst die wichtigste Berufsgrup­pe im Land sein könnten, wenn sie ihren Forderunge­n solidarisc­h Nachdruck verliehen hätten. Das sei aber versäumt worden. Nun müsse das Pflegesyst­em komplett auf den Prüfstand gestellt werden, verlangt er. Zu lange habe die Pflegebran­che davon gelebt, dass sich nichts verändert. Die Corona-Krise biete die Chance, aus den Fehlern der Vergangenh­eit zu lernen und die Dinge nachhaltig zu verbessern. Denn eines sei gewiss, sagt Altenpfleg­erin Ohlerth: „Jetzt kapieren alle, was wir leisten. Und irgendwann braucht uns jeder.“

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