Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald
Pflege – eine Schicksalsfrage
In der Corona-Krise bekommen die Altenheime große Aufmerksamkeit. Viele Probleme wie etwa der Personalmangel treten nun offen zutage. Nun ist die Chance da, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen.
In der Corona-Krise rücken diejenigen verstärkt in den Fokus, die eigentlich schon zuvor hätten im Mittelpunkt der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit stehen müssen – die Schwachen, Kranken, Alten. Und mit ihnen diejenigen, die sich gerade besonders intensiv um sie kümmern, die Pflegerinnen und Pfleger. Für sie stehen die Menschen auf den Balkonen, an den Fenstern, auf der Straße und klatschen, bedanken sich für deren Einsatz und Hingabe. Obwohl die Adressaten diese Anerkennung begrüßen, geht sie manchen nicht weit genug. „Ich möchte nicht für schlechte Pflege gelobt werden“, sagt Eva Ohlerth, seit 30 Jahren Altenpflegerin und Autorin des Buches „Albtraum Pflegeheim“. Sie sieht die derzeitige Krise als Zäsur, als eine Wegmarke, an der sich entscheidet, wie die Gesellschaft nach Corona mit ihren Alten und Schwachen umgehen, welche Pflege sie sich leisten will. Und zwar nicht nur in finanzieller Hinsicht.
Rund 150.000 Altenpflegerinnen und Altenpfleger fehlen bundesweit, die Heime brauchen laut Bundesagentur für Arbeit etwa 180 Tage, um eine freie Stelle zu besetzen. Oftmals wird auch einfach nicht eingestellt, um Kosten zu sparen. Eine desolate Situation, die nun offen zutage tritt. Vielfach könne das Personal in den Heimen weder den Aufgaben noch den eigenen Ansprüchen gerecht werden, sagt Ohlerth, die auch deshalb in die häusliche Intensivpflege gewechselt ist. Zu hohe Arbeitsdichte, zu wenig Personal, das mache die Arbeitsbedingungen in vielen Heimen mehr als schwierig – Dienstpläne würden ständig umgeworfen, mancherorts würden Pfleger von den Kollegen gemobbt, wenn sie sich zu sehr um die Bewohner kümmerten. Statt alte Menschen zu mobilisieren und aufzubauen, werde „in die Betten gepflegt“.
Die Folge dieser Misere: „Viele Altenpfleger schaffen das nicht mehr.“Etwa 200.000 Fachkräfte seien in den vergangenen Jahren in andere Berufe geflüchtet, sagt Ohlerth. Pflexit nennt sie diesen Exodus, den Schutzbedürftige in vielen Heimen ausbaden müssten, weil das verbliebene Personal an der Belastungsgrenze arbeitet.
Claus Fussek, Sozialarbeiter, Buchautor und wohl Deutschlands bekanntester und härtester Pflegekritiker, kennt diese Probleme sehr gut. Weil es altbekannte sind, die er seit Jahrzehnten zu lösen versucht. Schon vor Corona seien alte Menschen in Heimen zuhauf und immer wieder aus unklaren Gründen gestorben. Das habe jedoch niemanden sonderlich interessiert, sei konsequent verdrängt und auf unrühmliche Einzelfälle reduziert worden.
Fussek urteilt harsch, bezeichnet Heime deshalb als rechtsfreie Räume. „Es ist jetzt an der Zeit, die Situation schonungslos zu analysieren“, sagt er. „Die Frage ist nur: Hält unsere Gesellschaft das aus?“Denn Pflege sieht er als eine Gemeinschaftsaufgabe, in der Politik, Angehörige und Betreuer an einem Strang ziehen, sich zum Anwalt der Alten machen müssen. Niemand von diesen Beteiligten würde sich hinstellen und sagen, dass er schlechte Pflege wolle. „Dennoch“, sagt Fussek, „werden mit schlechter Pflege hierzulande Milliarden verdient.“
Dass gute Pflege auch eine Frage des Geldes ist, weiß Eva Ohlerth aus eigener Erfahrung. Zu schlecht sei die Bezahlung des Personals, neben der ideellen brauche es unbedingt monetäre Anerkennung, um Anreize zu schaffen. Die gebürtige Rheinländerin fordert in einer mit sechs Kolleginnen aufgesetzten Online-Petition an Gesundheitsminister Jens Spahn mindestens 4000 Euro brutto Einstiegsgehalt für Pflegekräfte. Mehr als 400.000 Menschen haben innerhalb von zehn Tagen unterschrieben. Ein höheres Gehalt würde mehr Personal anlocken, das sich besser behandelt fühlt und engagierter handelt.
„Es ist jetzt an der Zeit, die Situation schonungslos zu analysieren“
Claus Fussek Buchautor und Pflegekritiker
Bezahlt werden müsste es aber von allen, ein Umstand, den viele Menschen nicht akzeptieren wollten. „Genau das ist die Schwierigkeit“, sagt Fussek. „Pflege muss nach Corona eine Schicksalsfrage der Gesellschaft werden.“
Natürlich geht es nicht ausschließlich um Finanzen, um Zahlen. Sondern auch darum, was eine würdevolle Pflege ausmacht. Fussek und Ohlerth bestätigen, dass dies schon heute in etlichen Heimen umgesetzt werde. Dort stimmten das Arbeitsklima und die Entlohnung, würden Angehörige sinnvoll eingebunden und die Bewohner aktiv begleitet, nicht ruhiggestellt. „Alte Menschen dürfen im Heim nicht ihrer Persönlichkeit beraubt werden, sondern man kann ihnen zum Beispiel auch noch gemäß ihren Möglichkeiten kleine Aufgaben übertragen“, sagt Ohlerth. Vieles hänge davon ab, dass Altenpfleger und Angehörige nicht gegeneinander arbeiten, sondern sich solidarisieren, dass sie gemeinsam ethisches Handeln in den Mittelpunkt stellen.
Am Ende steht und fällt also alles mit den Menschen. Vor allem mit denjenigen, die pflegen. Die Ausbildung sei gut und umfassend, dennoch würden Altenpfleger oft als Helfer gesehen, auf einfache Aufgaben reduziert, bedauert Ohlerth. Die aktuelle Aufmerksamkeit verändere das gerade. „Wir müssen als die Experten wahrgenommen werden, die wir sind“, sagt sie und fordert, dass sich der Berufsstand besser organisiert, sich zusammenschließt.
Fussek ist sogar der Ansicht, dass Pflegekräfte schon längst die wichtigste Berufsgruppe im Land sein könnten, wenn sie ihren Forderungen solidarisch Nachdruck verliehen hätten. Das sei aber versäumt worden. Nun müsse das Pflegesystem komplett auf den Prüfstand gestellt werden, verlangt er. Zu lange habe die Pflegebranche davon gelebt, dass sich nichts verändert. Die Corona-Krise biete die Chance, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen und die Dinge nachhaltig zu verbessern. Denn eines sei gewiss, sagt Altenpflegerin Ohlerth: „Jetzt kapieren alle, was wir leisten. Und irgendwann braucht uns jeder.“