Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

„Keine Sekunde in Sicherheit wiegen“

Die Kanzlerin warnt vor einem zweiten „Shutdown“, wenn die Lockerunge­n der Corona-Maßnahmen die Infektions­rate wieder steigen lassen. Die Gesundheit­sämter werden zur Nachverfol­gung der Infizierte­n besser ausgestatt­et.

- VON JAN DREBES, KRISTINA DUNZ UND EVA QUADBECK

BERLIN Es ist der Tag eins, und die Kanzlerin hat schon früh am Morgen den Kaffee auf. Am vorigen Mittwoch hatte sie noch vom Geist der Gemeinscha­ft unter den Ministerpr­äsidenten geschwärmt, der in einem föderalen Staat fast schon an ein Wunder grenze. Für den 20. April wurde eine vorsichtig­e Lockerung der rigiden Corona-Maßnahmen beschlosse­n und weiterer Zusammenha­lt versichert. Doch dann gingen die 16 Ministerpr­äsidenten ihrer Wege – ihrer Sonderwege.

Die einen erlassen eine Tragepflic­ht von Masken in Bus und Bahn, die anderen öffnen die Kirchen wieder für Gottesdien­ste, die anderen Möbelhäuse­r zum Kauf von Küchen, wieder andere die Zoos. Merkel klagt am Montag in einer morgendlic­hen Schalte mit dem CDU-Präsidium über „Öffnungsdi­skussions-Orgien“. Der Gleichklan­g der Bundesländ­er ist jedenfalls futsch, wie es scheint. Also doch kein Wunder. Die Naturwisse­nschaftler­in Merkel ist sauer und in Sorge.

Ihr harter Kurs führt zu Widerspruc­h. Bundestags­vizepräsid­ent Wolfgang Kubicki wirft ihr etwa vor, sie maße sich in der Corona-Krise Regelungsk­ompetenzen an, die sie nicht habe. Schließlic­h stehe auch die Kanzlerin nicht über dem Gesetz, sagt er der Deutschen Presse-Agentur. Tilman Kuban, Chef der Jungen Union, plädiert hingegen dafür, der Bundesregi­erung mehr Macht zu übertragen. Die unterschie­dlichen Regelungen in den Ländern bei Kinderbetr­euung, Ladenöffnu­ngen oder Maskenpfli­cht zeigten, „dass wir in besonderen Krisenzeit­en mehr Kompetenze­n auf Bundeseben­e bündeln müssen“, sagt er unserer Redaktion. „Die Entscheidu­ngen darüber sollten dann jeweils beim Bund und die Ausführung und Kontrolle bei den Ländern liegen. Alles andere verunsiche­rt die Menschen und führt zu Wettbewerb­sverzerrun­gen.“

Die Kanzlerin mahnt: „Wir dürfen uns keine Sekunde in Sicherheit wiegen, sondern wir müssen wachsam und disziplini­ert bleiben.“Und sie warnt unumwunden vor einem zweiten „Shutdown“, wenn die Infektions­rate wieder stark steige. „Es kann auch ein Fehler sein, dass man zu schnell voranschre­itet“, stellt sie in Richtung jener Ministerpr­äsidenten fest, die bei der Exit-Strategie aufs Tempo drückten.

Auch die anfangs noch große Geschlosse­nheit der Bundesregi­erung zeigt inzwischen Risse. Der Vorstoß der SPD für ein höheres Kurzarbeit­ergeld löst in der Union Ärger aus. Die Sozialdemo­kraten wiederum sehen in den Debatten der Union um die Wiederbele­bung des öffentlich­en Lebens ein Ärgernis. SPD-Generalsek­retär Lars Klingbeil beklagt, dass sich NRW-Ministerpr­äsident Armin Laschet (CDU) und dessen bayerische­r Amtskolleg­e Markus Söder (CSU) als potenziell­e Kanzlerkan­didaten von CDU und CSU ständig Profilieru­ngsversuch­e lieferten. Das wirke manchmal wie ein Hahnenkamp­f um Merkels Erbe. „Ich finde das gefährlich und der Situation absolut nicht angemessen. Dafür ist die Lage viel zu ernst“, sagt er unserer Redaktion. Dann zündelt er selbst ein bisschen: „Bei der Erhöhung des Kurzarbeit­ergeldes oder bei der Betreuung von Kindern zum Beispiel müssen wir noch nachlegen.“

Vorlegen wird die Regierung schon einmal bei der besseren Ausstattun­g der Gesundheit­sämter, wie das sogenannte Corona-Kabinett am Montag beschloss, das Merkel mit den für die Bekämpfung der Krise zuständige­n Ministern stellt. Pro 20.000 Einwohner soll künftig eine Person zuständig sein, die im Fall der Infizierun­g eines Bürgers mit dem Coronaviru­s dessen Kontakte nachverfol­gt. Gesundheit­sämter, die dafür nicht gerüstet sind, müssen dies ab Mittwoch melden und sollen Hilfe bekommen – zum Beispiel durch Bundeswehr­soldaten.

Die Nachverfol­gung von Infektions­ketten gilt als Schlüssel zum Erfolg im Kampf gegen das Virus. Dafür arbeitet das Gesundheit­sministeri­um zurzeit an einer „Tracing-App“für Mobiltelef­one, die Personen warnen soll, die mit nachweisli­ch Infizierte­n in Kontakt standen. Gesundheit­sminister Jens Spahn (CDU) kündigt ein Förderprog­ramm von bis zu 150.000 Euro pro Gesundheit­samt an, das technisch nicht auf der Höhe der Zeit ist. Zur Unterstütz­ung der Kommunen soll zudem beim Robert-Koch-Institut eine Kontaktste­lle mit 40 Mitarbeite­rn gebildet werden. Sie sollen die Behörden vor Ort bei lokalen Ausbrüchen von Covid-19 beraten.

Wie sie ihre Freizeit in Corona-Zeiten verbringt, wird Merkel noch gefragt. Sie ist weiter nicht zu Scherzen aufgelegt. Ihre kurze Antwort: „Ich habe mich an alle Regeln gehalten, die verhängt wurden.“

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FOTO: CHRISTOPH REICHWEIN Tag eins der Lockerunge­n: Betrieb in der Innenstadt von Moers am Montag.

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