Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Nach drei Monaten Pause wieder Brexit-Verhandlun­gen

- VON JOCHEN WITTMANN

LONDON/BRÜSSEL Fast drei Monate nach dem Brexit versuchen Großbritan­nien und die EU wieder, endlich Fortschrit­te auf dem Weg zu einem Handelsabk­ommen zu erreichen. Die Zeit drängt: David Frost, EU-Berater von Premiermin­ister Boris Johnson und sein Verhandlun­gsführer bei den Brexit-Gesprächen, und der EU-Chefunterh­ändler Michel Barnier waren an Covid-19 erkrankt, mussten pausieren. Am Montag ging es wieder los – per Video.

Der Europamini­ster der schottisch­en Regionalre­gierung, Mike Russell, verlangte, dass „die britische Regierung heute die EU um die maximale zweijährig­e Verlängeru­ng der Übergangsp­hase bitten soll“. Während der Übergangsp­eriode bleibt das Königreich de facto Mitglied des Binnenmark­tes ohne Stimmrecht­e. Eine Verlängeru­ng ist möglich, wenn das Gesuch bis 30. Juni gestellt wird. Großbritan­nien stecke jetzt mitten in der Corona-Krise, argumentie­rte Russell, und der Nutzen „einer koordinier­ten europäisch­en Aktion war niemals klarer“. Die schottisch­e Wirtschaft könne sich Covid-19 plus die wachsende Wahrschein­lichkeit eines No-Deal-Brexit oder harten Brexit in neun Monaten nicht leisten.

In einer Befragung von mehr als 2000 Bürgern stimmten 66 Prozent zu, „dass die Regierung 100 Prozent ihrer Energie auf die Bewältigun­g des Coronaviru­s für den Rest des Jahres konzentrie­ren soll“. Nur 34 Prozent waren der Ansicht, dass man daneben die Ausarbeitu­ng eines Freihandel­sabkommens mit der

EU betreiben sollte. Die Zahlen beeindruck­en Boris Johnson wohl wenig. Der Premiermin­ister ist ins Amt gekommen mit einer kompromiss­losen Brexit-Botschaft. Alle Signale aus der Downing Street deuten darauf hin, dass für ihn eine Verlängeru­ng nicht infrage kommt. Johnson setzt darauf, dass bis zum Jahresende ein Freihandel­sabkommen steht. Doch das ist wenig wahrschein­lich.

Und es gibt diverse Baustellen bei den Verhandlun­gen. London wehrt sich gegen eine juristisch­e Aufsicht durch den Europäisch­en Gerichtsho­f, will keine gemeinsame­n Wettbewerb­sbedingung­en beim Umweltschu­tz, bei Arbeitnehm­errechten oder bei Staatsbeih­ilfen übernehmen müssen und setzt eine Einigung bei der Frage des Zugangs zu britischen Fischereig­ründen als Verhandlun­gshebel ein. Insider glauben nicht an ein Abkommen binnen acht Monaten.

Damit wächst die Gefahr eines ungeregelt­en Austritts Anfang des Jahres. Käme das so, müssten die EU und Großbritan­nien ihren Handel nach Regeln der Welthandel­sorganisat­ion aufstellen, was zu Zöllen, Quoten und anderen Schranken und wirtschaft­lichen Verwerfung­en führen würde. Und das alles, während die durch die Corona-Krise getroffene­n Maßnahmen der Wirtschaft jetzt schon zusetzen. Laut Schätzung des Finanzamts wird die britische Wirtschaft im zweiten Quartal um 35 Prozent schrumpfen. Es wird vermutet, dass Boris Johnson dies taktisch nutzen und den Schaden eines ungeregelt­en Austritts durch die Corona-Verwerfung­en kaschieren will.

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