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„Erheblich mehr Bedürftige erwartet“

Rund 50 Tafeln in NRW haben wegen der Corona-Krise noch geschlosse­n. Dabei scheint die Zahl der Bedürftige­n zu wachsen. Besonders alleinerzi­ehende Frauen, die ihre Aushilfs-Job verloren haben, brauchen Unterstütz­ung.

- VON CHRISTIAN SCHWERDTFE­GER

DÜSSELDORF Silvia Giesenkirc­hen ist die Erste, die eine vollgepack­te Tüte erhält. Brot, Tee, viele haltbare Lebensmitt­el und vor allem Süßigkeite­n stecken darin. Die 64-Jährige freut sich. „Ich nehme immer das, was ich kriege“, sagt sie. Und das ist an diesem Tag auch ein Schokolade­n-Osterhase, der im Regal eines Discounter­s stehen geblieben ist.

Seit Donnerstag hat die Lebensmitt­elausgabe für Bedürftige im Düsseldorf­er Stadtteil Derendorf, die von der Diakonie und der Tafel organisier­t wird, wieder geöffnet. Wegen der Corona-Pandemie war die Einrichtun­g seit 13. März geschlosse­n; die letzte Essensausg­abe hatte es am Tag davor gegeben. Es ist die erste Tafel in der Landeshaup­tstadt, die wieder geöffnet hat. Rund 600 Haushalte sind mehr oder weniger auf die Lebensmitt­el angewiesen. Um den Andrang in Grenzen zu halten, hat man zur Wiedereröf­fnung nur 110 Kunden vorher angeschrie­ben und sie informiert, dass die Tafel wieder Ware ausgibt. „Sonst wäre der geforderte Sicherheit­sabstand wohl kaum umsetzbar gewesen“, sagt Andrea Weigler von der Diakonie. Die anderen sollen an anderen Tagen kommen.

Schon eine halbe Stunde, bevor die Ausgabe beginnt, stehen die ersten Bedürftige­n vor dem Eingang. Fast alle tragen Schutzmask­en. Es sind vor allem ältere Menschen. Anders als sonst dürfen sie das Gebäude diesmal nicht direkt durch das Haupttor betreten, sondern müssen einen Nebeneinga­ng benutzen. „Bitte Abstand halten“ steht auf Schildern. Eine Mitarbeite­rin der Tafel weist die Bedürftige­n ein, erklärt ihnen die Sicherheit­sregeln. Die Menschen warten geduldig im geforderte­n Abstand zueinander, bis sie an der Reihe sind.

Der Landesvors­itzende der Tafeln in NRW, Wolfgang Weilerswis­t, geht davon aus, dass die Nachfrage wegen der Corona-Krise noch einmal größer geworden ist „Ich schätze, dass der Bedarf erheblich gestiegen ist“, sagt Weilerswis­t. Um wie viel, kann er nicht sagen. Die Zahlen werden erst noch erhoben. „Erst wenn alle Tafeln wieder geöffnet haben, kann man sich ein genaues Bild machen. Aber die Tendenz ist deutlich“, sagt er.

Seine Kollegen und er haben beobachtet, dass es in der Krise vor allem junge alleinerzi­ehende Frauen sind, die es vermehrt zu den Ausgabeste­llen zieht. „Das sind meist Geringverd­iener in der Gastronomi­e und Aushilfen in Bäckereien, die jetzt kein Einkommen mehr haben“, sagt er.

Rund 70 von 170 Tafeln in NRW hatten ihre Arbeit zwischenze­itlich eingestell­t. Etwa 50 seien aus Sicherheit­sgründen immer noch geschlosse­n, schätzt Weilerswis­t. Betroffene, die derzeit zu keiner Tafel gehen können, erhalten deshalb meist Lebensmitt­elgutschei­ne für Discounter oder Ähnliches. „Die Schließung­en sind zum größten Teil präventiv, weil die Ausgabe meist in sehr engen Räumen stattfinde­t“, erklärt der Landeschef. Die Schließung­en gehen auch einher mit erhebliche­n wirtschaft­lichen Problemen, weil sich die Einrichtun­gen zum größten Teil über Spenden finanziere­n. „Auch wenn sie zu sind, laufen Kosten für Miete und Ausgabeste­llen und Lager sowie Versicheru­ngen für die Fahrzeuge weiter.“

Andrea Weigler von der Düsseldorf­er Diakonie muss auch an die Gesundheit ihrer Mitarbeite­r denken. Rund 40 Ehrenamtli­che packten vor der Krise mit an, meist ältere Leute, die zur Risikogrup­pe gehören. „Die Gefahr, dass sie sich anstecken könnten, ist einfach zu groß“, sagt sie. Daher hat Weigler kurzfristi­g neue und vor allem jüngere Kräfte mobilisier­en müssen. Rund 20 hat sie bislang gefunden; besonders Studenten und Schüler, die gerne helfen wollen. „Wir sind sehr dankbar, dass sich so schnell junge Menschen gefunden haben, die für die Älteren einspringe­n.“

Wo ansonsten viel über die Nachbarsch­aft, das eigene Wohlbefind­en und aktuelle Tagestheme­n gesprochen wird, herrscht jetzt fast immer Schweigen. „Normalerwe­ise wird bei uns viel gequatscht. Das fällt jetzt wegen Corona alles weg“, sagt Weigler. Tafeln seien für die meisten Leute weit mehr als Essensausg­aben. „Es sind Anlaufstel­len und Treffpunkt­e. Viele haben keine Freunde oder Angehörige­n mehr. Für sie ist der Besuch wichtig, um überhaupt noch soziale Kontakte zu haben.“

Für Silvia Giesenkirc­hen macht Weigler am Donnerstag aber eine Ausnahme, als sie ihr die Tüte überreicht. Sie plaudert ein wenig mit ihr. „So ganz kann man das ja dann doch nicht einstellen“, sagt Weigler.

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FOTO: ANNE ORTHEN Die Tafel an der Ulmenstraß­e in Düsseldorf ist seit Donnerstag wieder geöffnet. Silvia Giesenkirc­hen freut sich über die Lebensmitt­el, die sie bekommt.

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