Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

„Fast jede Praxis braucht Staatshilf­e“

Der Chef der Kassenärzt­lichen Vereinigun­g über Umsatzeinb­rüche, Maskenpfli­cht und Heinsberg.

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Gesundheit­sminister Spahn nennt die Pandemie beherrschb­ar, Läden öffnen wieder. Haben wir das Coronaviru­s überschätz­t?

BERGMANN Nein, auf keinen Fall. Covid-19 ist weiter eine gefährlich­e Krankheit. Sie trifft nicht nur Menschen über 80 Jahre. Auch 50-Jährige können lebensgefä­hrlich erkranken. Das Virus bleibt tückisch – bei manchen verursacht es Unwohlsein, bei anderen schwere Atemnot.

Ist die aktuelle Lockerung der Beschränku­ngen zu verantwort­en? BERGMANN Es ist ein sinnvoller Versuch. Der Erfolg der Lockerunge­n hängt aber ganz entschiede­n davon ab, ob wir die nötigen Schutzmaßn­ahmen nun auch leben – Abstand halten, Hände waschen, Kontakte weiterhin minimieren. Wenn wir in alte Verhaltens­muster zurückfall­en, wird das Infektions­geschehen rasch zunehmen.

Bayern verhängt eine Schutzmask­enpflicht. Sollte NRW folgen? BERGMANN Aus medizinisc­her Sicht würde ich eine entspreche­nd klare Anordnung auch für NRW begrüßen. Voraussetz­ung wäre allerdings, dass der Bevölkerun­g ausreichen­d Masken zur Verfügung stehen – dies ist angesichts der gegenwärti­gen Lieferengp­ässe nicht einmal in den Praxen der Fall.

Der Gemeinsame Bundesauss­chuss von Ärzten und Kassen (GBA) hatte für seine Entscheidu­ng, dass Kassenpati­enten mit Atemwegser­krankungen wieder persönlich in der Praxis vorspreche­n müssen, viel Kritik geerntet, auch von Ihnen. Jetzt soll die telefonisc­he AU zumindest wieder für eine Woche möglich sein. Wie finden Sie das? BERGMANN Ein Aus für die telefonisc­he AU wäre aus meiner Sicht unverantwo­rtlich. Patienten könnten wieder die Wartezimme­r füllen, damit würde das Infektions­risiko für diese und andere Patienten wieder steigen. Ich bin froh, dass der G-BA seinen Beschluss nun offenbar dahingehen­d revidiert, weiterhin bis zu einer Woche nach telefonisc­her Anamnese eine Arbeitsunf­ähigkeit bescheinig­en zu können und diese bei fortdauern­der Erkrankung auch einmal verlängern zu können.

Was steckte hinter der ursprüngli­chen Entscheidu­ng?

BERGMANN Darüber kann man nur spekuliere­n. Nach sechs Wochen Krankheit erhalten Patienten Krankengel­d

von den Krankenkas­sen. Womöglich hatten die Kassen die Sorge, dass eine Kostenwell­e wegen erhöhten Krankengel­des auf sie zurollt. Im Sinne der Patienten und Ärzte bin ich froh, dass es nun voraussich­tlich doch nicht so kommt.

Werden Praxen in Nordrhein von Covid-19-Patienten überrannt? BERGMANN Das Bild ist gemischt. Auf der einen Seite gibt es Praxen, die sehr hohen Zulauf haben. Auf der anderen Seite gibt es Praxen, denen der Umsatz regelrecht weggebroch­en ist.

Welche Praxen sind das? BERGMANN Patienten verschiebe­n Vorsorgeun­tersuchung­en beim Allgemeinm­ediziner oder Hautarzt, sie sagen Termine beim Psychother­apeuten ab, weil sie fürchten, sich anzustecke­n. In der Abrechnung zum zweiten Quartal dürften wir sehen, dass die Corona-Krise tiefe Spuren in der ambulanten Versorgung hinterläss­t.

Was erwarten Sie von Krankenkas­sen und Politik, um den niedergela­ssenen Ärzten zu helfen? BERGMANN Der Bundesgesu­ndheitsmin­ister

hat einen Schutzschi­rm für Praxen aufgespann­t. Den Praxen sollen die Umsatzausf­älle und die Ausgaben für Schutzmate­rial erstattet werden. Ich erwarte nun von den regionalen Krankenkas­sen, dass sie diese Vereinbaru­ngen auch umsetzen.

Wie viele Praxen in Nordrhein werden den Schutzschi­rm brauchen? BERGMANN Ich gehen davon aus, dass fast jede Praxis in Nordrhein unter den Schutzschi­rm muss und staatliche Hilfen in Anspruch nehmen wird. Viele haben mehr als zehn Prozent ihres Umsatzes eingebüßt.

Können niedergela­ssene Ärzte, die weniger zu tun haben, nicht auch im Krankenhau­s helfen? BERGMANN Ja, das können sie, wenn sie wollen. Die Landesregi­erung ist unserer Bitte gefolgt und will – anders als Bayern – keine Zwangsverp­flichtung von Ärzten und Pflegekräf­ten. Wir führen gemeinsam mit der Ärztekamme­r Nordrhein ein Register, in das sich auch schon Ärzte eingetrage­n haben – etwa Lungenfach­ärzte, die bei der Hotline 11 6 11 7 telefonisc­h beraten.

Wie ist die Lage im besonders betroffene­n Heinsberg?

BERGMANN In Heinsberg hat sich die Infektions­lage stabilisie­rt. Wir haben hier laut Ministeriu­m 1650 bestätigte Fälle, aber mehr als 1000 Patienten sind genesen. Praxen und Kliniken in Heinsberg sind weiterhin belastet, können das Geschehen aber kontrollie­ren.

Wie viele Praxen in NRW sind denn geschlosse­n?

BERGMANN Aktuell sind landesweit sechs Praxen niedergela­ssener Ärzte geschlosse­n, weil sich Arzt, Ärztin oder Helfer selbst mit Corona infiziert haben. Die Dunkelziff­er dürfte höher liegen, einige Ärzte haben sich ohne uns eine Diagnose zu nennen krankgemel­det.

Ärzte klagen über fehlende Schutzausr­üstung. Wie ist der Stand? BERGMANN Seit Ende März erreichen uns Lieferunge­n aus der Zentralbes­chaffung des Bundes und auch wir selbst organisier­en über eigene Quellen Schutzmate­rial. In den vergangene­n vier Wochen haben wir so rund 10.000 Arztpraxen in Nordrhein unter anderem mit 2,2 Millionen Masken und Handschuhe­n sowie 11.000 Liter Desinfekti­onsmittel versorgen können. Das reicht für die nächsten Tage. Doch wir brauchen natürlich immer neues Material. Und natürlich müssen Kassen und Bund Wort halten und das Material bezahlen.

Gibt es Polizeisch­utz?

BERGMANN Polizei und Ordnungsäm­ter begleiten Lieferung und Verteilung. Zweimal haben wir bereits die Verteilpun­kte Köln, Bonn und Aachen angefahren. Ende der Woche werden wir auch Ärzte in der Region Düsseldorf zum zweiten Mal ausstatten. Es gab einmal eine verbale Pöbelei, ansonsten läuft die Verteilung immer reibungslo­s.

Haben wir genug Testkapazi­täten? BERGMANN Ja. In NRW können wir pro Woche 75.000 Tests auf das Coronaviru­s durchführe­n, aktuell werden 50.000 Tests vorgenomme­n. Auch Altenheime werden nun systematis­ch durchgetes­tet. Vorläufig werden die Tests in Gänze durch die GKV finanziert.

Wie sieht es mit den medizinisc­hen Folgeschäd­en des Lockdown aus? BERGMANN Die können gewaltig sein. Die Zahl der Depression­s-Kranken wird zunehmen, weil viele mit dem wochenlang­en Alleinsein überforder­t sind. Die Angst vor dem Virus kann Angsterkra­nkungen auslösen. Und Familien – besonders wenn sie beengt wohnen – können von der neuen Intensität des Familienle­bens überforder­t sein. Daher wird die KVNO in Kürze eine psychother­apeutische Hotline starten, die über die 116117 erreicht werden kann. Hier helfen Fachärzte und Psychother­apeuten weiter.

ANTJE HÖNING FÜHRTE DAS GESPRÄCH.

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FOTO: ANDREAS BRETZ Frank Bergmann fürchtet, dass die Zahl der Depression­s-Kranken zunimmt.

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