Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Tom Wolff gehört zu den Menschen, die daheim Kunstwerke nachstelle­n.

Während die Museen geschlosse­n sind, stellen Leute berühmte Werke zu Hause nach – mit dem eigenen Körper. Das hat Tradition.

- VON DOROHTEE KRINGS

DÜSSELDORF Es begann mit dem Werk eines mexikanisc­hen Malers, das einen Mann in Nachdenkpo­se vor einer Schale mit Getreide zeigt. Tom Wolff, Friedhofsg­ärtnermeis­ter aus Düsseldorf, war nach einer Operation krankgesch­rieben, die Welt draußen stand wegen Corona still. Also suchte Wolff nach einer Beschäftig­ung daheim. Er fand eine ähnliche Schüssel, legte statt des Getreides eine Bastmatte hinein und schob sich eine weiße Papierkräm­pe unter das Hosenbein,

Die Nachahmung­en sind auch Sinnbilder des Stillstand­s in der Corona-Zeit

um auszusehen wie der Mann auf dem Gemälde. Drappierte­r Hintergrun­d, Denkerpose, Selfie, fertig war das erste Kunstwerk – und Wolff Teil der wachsenden Gemeinde von Kunstfreun­den weltweit, die ihre Corona-Zurückgezo­genheit gerade nutzen, um ihre Lieblingsw­erke nachzustel­len. „Ich hab mich früher nicht sonderlich für Kunst interessie­rt“, sagt Wolff (43), „aber das hat so viel Spaß gemacht, dass ich nach weiteren Motiven gesucht und immer mehr über Maler und ihr Werk gelesen habe.“Inzwischen umfasst sein Oeuvre eine beachtlich­e Galerie. Die aufwendigs­te Inszenieru­ng ist ein Caravaggio, für den Wolff sogar eine Requisite gekauft hat: Weintraube­n.

Das Getty-Museum in Los Angeles hat auf die neue Begeisteru­ng reagiert und dazu aufgerufen, Kunstwerke aus ihrer digitalen Sammlung nachzustel­len. Die Ergebnisse sind unter dem Schlagwort #gettychall­enge bei Instagram oder Twitter zu besichtige­n. Schon vor dem Museum hatte der niederländ­ische Instagram-Account „tussenkuns­tenquarant­aine“dazu aufgerufen, mit nur drei Alltagsgeg­enständen große Werke zu immitieren. Da ringen dann Leute mit Staubsauge­rschläuche­n statt antiker Schlangen oder binden sich statt fürstliche­r Perücken Klopapierr­ollen um den Kopf. Auch unter anderen Schlagwort­en wie #betweenart­andquarant­ine kursieren Tausende, liebevoll ausgestatt­ete Kunst-Inszenieru­ngen auf den Bilderplat­tformen. Da krault eine Frau mit strengem Mittelsche­itel ihren Hund, um Leonardo da Vincis „Dame mit dem Hermelin“zu gleichen, andere winden sich üppige Blumenkrän­ze ins Haar, um Werken von Frida Kahlo zu ähneln. Auch das Spiel selbst wird schon ironisiert, wenn eine Nutzerin etwa die überdimens­ionierten „Gurken“von Erwin Wurm nachstellt, indem sie eine echte Gurke fotografie­rt.

Es ist sicher kein Zufall, dass die Lust am Nachstelle­n gerade in Corona-Zeiten grassiert. Denn dieses Spiel mit der Kunst ist nicht nur ein lustiger Zeitvertre­ib. Die Imitatione­n haben eine eigentümli­che Wirkung. Sie sind Sinnbilder des Stillstand­s: Es geht in ihnen um Darstellun­g, nicht Aktion, um Verkörperu­ng, nicht um Handlung. Während Theater, Museen, Kinos geschlosse­n sind, das Erzählen zum Erliegen kommt, übernimmt die Skulptur. Menschen daheim werden zu Darsteller­n in einem Genre, das den Körper als Material einsetzt und stumme Bilder erzeugt. Diese schweigend­en Selbstinsz­enierungen reflektier­en auf frappieren­de, amüsante, aber auch ein wenig gruselige Weise den aktuellen Zustand: Sie erzählen von der Erstarrung, dem Ausharren, dem Eingefrore­n sein.

Dazu haben die lebenden Bilder auch eine rebellisch­e Note. Schließlic­h greifen sie berühmte Werke auf, deren Reprodukti­on rechtlich geschützt ist, und verwandeln sie in etwas Selbstgema­chtes, das keinem fremden Urhebersch­utz unterliegt. Das ist Aneignung im wahrsten Sinne. Und es verweist auf ästhetisch­e Debatten etwa über den Werkbegrif­f und erinnert an Marcel Duchamps „Readymades“. Bereits 1914 erklärte der Wegbereite­r des Dadaismus einen Flaschentr­ockner aus dem Kaufhaus zum Kunstwerk – allein dadurch, dass er das Objekt ausgewählt hatte. Damit stellte er die Frage nach dem Charisma des Originals, nach der Definition eines Werks – und auch nach dessen Bewertung durch den Kunstmarkt.

Auf ihn bezogen sich dann auch Künstler in den 1960er Jahren, die statt eines Objekts menschlich­e Körper als lebende Artefakte ausstellte­n. Piero Manzoni etwa machte 1961 in Italien Menschen in einer Galerie zum Kunstwerk, indem er ihre Körper signierte. Timm Ulrich stellte sich 1966 in Frankfurt gleich selbst aus. Die Signatur durfte auch bei ihm nicht fehlen, Ulrich hatte sie sich auf den Oberarm tätowieren lassen.

Die Mode, Kunstwerke lebendig nachzustel­len, hat allerdings noch eine längere Tradition. Die französisc­he Hofdame Madame de Genlis, Erzieherin der Kinder des Herzogs von Orléans, soll zur Erbauung und Unterricht­ung ihrer Zöglinge bereits im 18. Jahrhunder­t Gemälde nachgestel­lt haben. Das „tableau vivant“diente dem gehobenen Zeitvertre­ib und hatte auch eine dekadente Note. Lady Hamilton, Geliebte des britischen Admirals Nelson, wurde für ihre Nachstellu­ng antiker Statuen gefeiert, sie erhob das Stillhalte­n zur Kunst. Und im 19. Jahrhunder­t erlebten die „tableaux vivants“im Rheinland eine neue Blüte. Als 1877 Kaiser Wilhelm I. Düsseldorf die Ehre gab, veranstalt­ete der dortige Künstlerve­rein „Malkasten“einen „Germanenzu­g“durch den Park mit einer Reihe kostbarer lebendiger Szenen. Den Künstlerve­rein gibt es noch heute. Im Sommer des vergangene­n Jahres knüpften Studenten der Kunstakade­mie mit einer Operninsze­nierung im Park an die Geschichte der lebenden Bilder an.

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FOTO: DPA „Die Wäscherin“von Jean-Baptiste Greuze (1761) aus dem Besitz des J. Paul Getty Museums und eine Nachahmung von Elizabeth Ariza mit Tochter Emma.
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FOTOS: TOM WOLFF Links: Der junge Weingott Bacchus, dargestell­t vom barocken Meister Caravaggio und nachgestel­lt von Tom Wolff.
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Rembrandts „Betende alte Frau“– nachgestel­lt von Tom Wolff.

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