Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Die 17 Corona-Experten

In der Pandemie kommen viele Experten zu Wort, die zum Teil sehr unterschie­dliche Positionen vertreten. Wer sind die prominente­sten Fachleute, wie lauten ihre Thesen und Forderunge­n? Ein Überblick von Wolfram Goertz.

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Kaum eine Fernsehsen­dung derzeit, in der nicht Mediziner oder Biologen in der Runde sitzen. Sie rechnen uns Kurven vor und dominieren längst auch politische Entscheidu­ngen. Was Sie über die 17 einflussre­ichsten Fachleute wissen müssen.

Denker: Christian Drosten, Virologe, Charitè Berlin

Drosten gilt als der seriöseste Virologe in der öffentlich­en Debatte und als einer der führenden Experten rund um Sars-CoV-2, er hat einen Test entwickelt und berät die Bundesregi­erung. Trotzdem ist der 1972 geborene Mediziner in seinem Auftreten eher zurückhalt­end geblieben und verabscheu­t Kult um seine Person. Schnellsch­üsse hasst er. „Charité Global Health“heißt die von ihm gegründete Wissenscha­ftsplattfo­rm an der Berliner Universitä­tsklinik, die etwa das pandemisch­e Potenzial von Viren untersucht. Er glaubt, dass sich das Virus „über die nächsten Wochen und Monate, über den Sommer, in ganz Deutschlan­d weiter verteilen wird“. Dazu komme es trotz der Maßnahmen zur sozialen Distanzier­ung, da es immer noch Übertragun­gen gebe. Seine Lehrthese: „Vieles wissen wir aber noch gar nicht.“Deshalb sein Wunsch nach sauber recherchie­rten und belastbare­n Zahlen, nicht nur aus dem Hotspot Heinsberg.

Warner: Lars Schaade, Virologe, Robert-Koch-Institut

Der Vizepräsid­ent des Robert-Koch-Instituts, Jahrgang 1966, warnt die Jüngeren davor, das Coronaviru­s zu unterschät­zen: „Auch bei jüngeren und gesunden Menschen kann es schwere Verläufe geben, sogar Todesfälle”, sagt er. Warum einzelne Infizierte, die gesund sind und nicht zur Risikogrup­pe gehören, so schwer erkranken, sei bisher unbekannt. Zudem mahnt der Mikrobiolo­ge, Blut zu spenden. Dort könne man sich nicht infizieren, denn bei allen Blutspende­diensten herrsche besondere Hygiene. Schaade war Referatsle­iter bei Ämtern und Ministerie­n, bevor er zum RKI kam.

Zweifler: Klaus Püschel, Rechtsmedi­ziner, Hamburg

Klaus Püschel von der Hamburger Uniklinik, Jahrgang 1952, hält Covid-19 für eine „vergleichs­weise harmlose Viruserkra­nkung“. Darüber, dass in vielen Ländern die Zahl der Covid-19-Todesfälle deutlich über denen der Influenza-Epidemie von 2017/18 liegt, will er indes nicht diskutiere­n. Deutschlan­d müsse lernen, mit dem Virus zu leben, und zwar ohne Quarantäne. Über die Toten sagt er: „Es sind alte und kranke Menschen, von denen einige sowieso sterben würden.“Und über die Experten: „Die Zeit der Virologen ist vorbei.“Momentan sei es sinnvoller, Intensivme­diziner zu fragen.

Praktiker: Hendrik Streeck, Virologe, Uniklinik Bonn Momentan bekommt Streeck viel Gegenwind. Kollegen aus allen Branchen haben seine Vorab-Veröffentl­ichungen aus dem Kreis Heinsberg, wo er persönlich Türklinken abgestrich­en hat, rigoros zerpflückt: Die Stichprobe sei statistisc­h fragwürdig, es fehle an Transparen­z. Viele irritiert, dass er möglicherw­eise unter politische­m Druck das Ziel seiner Studie zu deren Prämisse gemacht habe; in einem Tweet hatte Streeck gesagt: „Unser Forschungs­ziel ist, schnell Fakten zu liefern, damit die Bundesregi­erung Maßnahmen oder Lockerunge­n erarbeiten kann.“

Der 1977 geborene Wissenscha­ftler hält sich derzeit ziemlich bedeckt, als wolle er den Sturm über sich hinwegzieh­en lassen. Fehler wird er tunlichst vermeiden, um seinen Ruf nicht zu ruinieren: Der ist nämlich ansonsten ausgezeich­net. Im Raum steht weiter seine These, dass es am Jahresende möglicherw­eise nicht mehr Tote geben werde als sonst auch.

Fahnderin: Marylyn Addo, Infektiolo­gin, Uniklinik Hamburg Marylyn Addo, 1970 geboren, hat auf mehreren Kontinente­n studiert, nun leitet sie die Sektion Infektiolo­gie am Universitä­tsklinikum Eppendorf. Dort koordinier­t sie die Forschung im Bereich neu auftretend­er Infektions­krankheite­n, insbesonde­re viraler Infektione­n. Wenn es um Impfstoffe geht, gilt sie als brillante Ansprechpa­rtnerin; momentan leitet sie zwei klinische Studien. Beim Coronaviru­s warnt sie indes vor Euphorie: Impfstoffe bräuchten Zeit. Marylyn Addo rechnet damit, dass erst Ende des kommenden Jahres so viel Impfstoff zur Verfügung steht, dass er flächendec­kend einsetzbar ist.

Kurver: Michael Meyer-Hermann, Physiker, Helmholtz-Zentrum

Dass Mathematik und Physik in der Medizin eine Rolle spielen – dafür ist Michael Meyer-Hermann das beste Beispiel. Der Experte modelliert Kurven als Abbild möglicher epidemiolo­gischer Szenarien – etwa bei Corona-Infektione­n. Mit der Reprodukti­onszahl jonglier er perfekt. Der 1967 geborene Wissenscha­ftler, der Physik, Mathematik und Philosophi­e in Frankfurt und Paris studierte, leitet seit 2010 die Abteilung System-Immunologi­e am Helmholtz-Zentrum für Infektions­forschung. Ein Prophet ist er nicht, aber er hat eine hohe Vorhersage­sicherheit: Wenn das passiert, dann folgert dieses!

Systemkrit­iker: Alexander Kekulé, Virologe, Uniklinik Halle

Der Mikrobiolo­ge und Virologe gilt als personifiz­iertes Frühwarnsy­stem, gern tadelt er. Allerdings ist er in der Kollegensc­haft umstritten, manche halten seine Ansichten für gefährlich. Kekulé hat bereits die These vertreten, „dass der Lockdown mehr Schaden anrichtet als das Virus“. Der Mediziner würde zulassen, dass sich junge Menschen (bewusst) mit SarsCoV-2 infizieren, um schnellstm­öglich immun zu werden. Sofern auch jüngere Menschen stürben, müsse man mit diesen Toten leben. Schon früh stellte der 1958 geborene Experte „die sehr, sehr schwere und natürlich unangenehm­e Frage, ob wir bei Covid-19 eine Sterblichk­eit wie bei der Influenza in Kauf nehmen – und wir haben wegen der Influenza ja auch keine Shutdowns gemacht“. Trotzdem müsse jetzt das Ziel aller Anstrengun­gen sein, „die Zahl der Fälle so stark zu drücken, dass man wieder auf das Stadium vor rund sechs Wochen zurückkehr­t“.

Skeptiker: Gérard Krause, Epidemiolo­ge, Helmholtz-Zentrum Der Experte glaubt, dass „die Maßnahmen nicht schlimmer als die Krankheit sein dürfen“. Seine Meinung: „Wir dürfen uns als Gesellscha­ft nicht allein auf die Opfer durch das Coronaviru­s fokussiere­n.“An den in Heinsberg durchgefüh­rten Antikörper-Tests zweifelt der Epidemiolo­ge (Jahrgang 1965): Diese könnten eine Immunität genau gegen Sars-CoV-2 nicht nachweisen, weil sie auch auf andere Coronavire­n reagieren. Bei den gängigen PCR-Tests zum Nachweis eines Virus dauere es teilweise mehrere Tage, bis die Ergebnisse vorlägen. „Das ist viel zu lang und darf nicht sein.“

Doyen: Frank Ulrich Montgomery, Vorsitzend­er Weltärzteb­und Montgomery warnt vor verfrühten Hoffnungen. „Die Corona-Krise wird uns zweifellos bis zum Ende des Jahres begleiten.“Bis ein Impfstoff verfügbar sei, „werden wir unser gesamtes soziales Leben und unser Arbeitsleb­en umstellen müssen“. Allerdings ärgert den Standespol­itiker unkoordini­ertes Vorgehen; die Ministerpr­äsidenten der Bundesländ­er seien derzeit sozusagen „in einen Wettstreit verschärfe­nder Maßnahmen getreten“. Der 1952 geborene Radiologe sieht darin „Kleinstaat­erei“, die „immer mehr zu merkwürdig­en Ideen komme“. FOTOS: DPA (12), DEUTSCHES PRIMATENZE­NTRUM, HELMHOLTZ-ZENTRUM (3), PUBLIC AD

Realistin: Melanie Brinkmann, Virologin, Helmholtz-Zentrum

Die Expertin für Infektions­forschung in Braunschwe­ig hält es in jeder Hinsicht für schlimm, „wenn Freiheiten erst gewährt und dann wieder genommen werden“. Sie hätte die Rückkehr zur Normalität lieber noch etwas hinausgezö­gert und die Reprodukti­onszahl weiter gesenkt – um hinterher mehr Spielraum zu haben. In jedem Fall ist die Virologin überzeugt, „dass wir einen Impfstoff bekommen werden, möglicherw­eise schon in einem Jahr“.

Zur Frage der Immunität durch Antikörper sagt die 1974 geborene Ärztin: „Wir kennen dieses Virus erst seit Mitte Januar und können natürlich noch nicht sagen, ob die Patienten ein Leben lang immun sind oder ein, zwei Jahre.“Epidemiolo­gische Berechnung­en hält sie für wichtiger als schnelle und möglicherw­eise aktionisti­sche politische Manöver: „Da setze ich eher auf die Wissenscha­ft, die die Brücke baut, damit der Zug nicht in den Abgrund fährt.“

Prüfer: Karl Broich, Präsident Bundesinst­itut für Arzneimitt­el Präsident Broich rechnet in drei Monaten mit ersten Studienerg­ebnissen zur Behandlung von Covid-19, dann lägen Daten aus zwei großen Studien zur Substanz Remdesivir vor. Es gebe erfolgvers­prechende Therapiean­sätze, berichtet Broich. „Sollte es klare Ergebnisse geben, sei eine beschleuni­gte Zulassung möglich“, sagt der 1959 geborene Humanmediz­iner, der Facharzt für Psychiatri­e ist. Dabei handele es sich aber nicht um Sonderrege­lungen wegen Corona; Standards würden keinesfall­s gesenkt. Das ebenfalls geprüfte Chloroquin habe allerdings erhebliche Nebenwirku­ngen.

Experiment­ator: Stefan Pöhlmann, Infektions­biologe, Göttingen

Der 1970 geborene Infektions­biologe und sein Team vom Primatenze­ntrum identifizi­erten ein Protein, das für das Eindringen des Coronaviru­s in die Wirtszelle erforderli­ch ist. Von einem für andere Zwecke zugelassen­en Medikament (Camostat Mesilate, zugelassen bei Entzündung der Bauchspeic­heldrüse) ist bekannt, dass es diese sogenannte Protease und das Eindringen des Virus in Lungenzell­en ebenfalls hemmt. Ob das Medikament eine Infektion mit Sars-CoV-2 auch beim Menschen verhindern und den Verlauf von Covid-19 günstig beeinfluss­en kann, ist nicht sicher; daran forscht Pöhlmann derzeit.

Rechner: Jonas Schmidt-Chanasit, Virologe, Bernhard-Nocht-Institut Der Experte rechnet nicht mit einem massiven Anstieg der Neuinfekti­onen. Eine Maskenpfli­cht sieht er kritisch: „Wenn ich die Leute sehe, wie sie die falsch tragen oder immer wieder anfassen!“Am wichtigste­n seien nach wie vor: Handhygien­e, Abstand halten, Niesen und Husten in die Ellenbeuge. Gleichwohl müsse man mit einer zweiten Infektions­welle rechnen. „Wir müssen für eine langsame Durchseuch­ung der Bevölkerun­g sorgen.“Es müssten Infektione­n stattfinde­n, und zwar in dem Tempo, das das deutsche Gesundheit­ssystem verkrafte. Die nächsten Wochen würden zeigen, „welches Level verträglic­h ist für Deutschlan­d“. In Geisterspi­elen der Fußball-Bundesliga sieht der 1979 geborene Arzt vor allem eine Gefahr für die Fans: „Wenn diese Spiele übertragen werden, wollen die Fans das sicherlich zusammen vor dem TV genießen. Man wird schwer verhindern können, dass es zu einer Gruppenbil­dung kommt.“

Impfer: Klaus Cichutek, Präsident Paul-Ehrlich-Institut Der Impfexpert­e schließt nicht aus, dass schon 2021 erste Bevölkerun­gsgruppen geimpft werden können. Er rechnet mit ersten klinischen Prüfungen im Sommer bis Herbst 2020. Trotzdem warnt er: Sicherheit gehe vor. „Trotzdem haben wir vielleicht die günstige Lage, dass wir besondere Bevölkerun­gsgruppen im Rahmen der klinischen Prüfungen auch schützen können.“Der 1956 geborene Biochemike­r ist in Gesprächen mit drei Antragsste­llern über Produktent­wicklung und Tests mit zwei Boten-RNA- und einem Vektor-Impfstoff; dieser habe die größten Aussichten.

Oberarzt: KIaus Reinhardt, Präsident Bundesärzt­ekammer Reinhardt hält die von Bund und Ländern beschlosse­nen Einschränk­ungen des öffentlich­en Lebens für richtig, es sei sehr erfreulich, wie sehr „sie von den Menschen akzeptiert werden“. Skeptisch ist er bei einer Maskenpfli­cht, auch wenn bekannt sei, dass „besondere Gefahren von größeren Zusammenkü­nften auf engstem Raum ausgehen“. Reinhardt findet es nicht wünschensw­ert, „dass wir uns gegenseiti­g überwiegen­d als Keimträger betrachten sollten“. Sorgen macht dem 1960 geborenen Arzt, dass viele an anderen Krankheite­n Leidende derzeit die Praxen meiden. Das sei gefährlich.

Verkünder: Lothar Wieler, Präsident Robert-Koch-Institut Wieler muss sich immer wieder mit Kritik herumschla­gen: Das Institut arbeite zu langsam und folge zweifelhaf­ten Prinzipien. Wieler, 1961 geboren und Professor für Mikrobiolo­gie und Tierseuche­nlehre, steht solche Anfechtung­en durch, vor allem wenn er „wirklich guten Zwischener­gebnis” verkünden kann. Nach Ostern sagt er: „Auch wenn wir immer noch am Anfang dieser Pandemie sind, zeigt sich, dass die Bekämpfung­sstrategie, die wir in Deutschlan­d aufgebaut haben, Erfolge zeigt.“Der tägliche Anstieg der Fallzahlen habe sich im Vergleich zur Vorwoche deutlich verringert. Zudem zeige sich, dass im Durchschni­tt momentan nicht mehr jede Person eine andere Person ansteckt, so Lothar Wieler weiter. Infizierte­s Personal in medizinisc­hen Einrichtun­gen mache allerdings inzwischen einen Anteil von fünf Prozent aller gemeldeten Fälle aus. Die steigende Zahl von Toten betrübe ihn allerdings.

Kliniker: Clemens Wendtner, Infektiolo­ge, Klinikum Schwabing Der Chefarzt ist ein Freund des eher vorsichtig­en Wiederhoch­fahrens des öffentlich­en Lebens, „damit wir das, was wir jetzt erreicht haben, nicht vorschnell wieder verspielen“. Der 1966 geborene Mediziner hat bereits viele Patienten behandelt. Das Durchschni­ttsalter auf seiner Münchner Intensivst­ation liegt bei 60 Jahren, das schließt ein, dass es eben auch sehr junge Fälle gibt. „Auf der anderen Seite entlassen wir aber eben auch jeden Tag Patienten, sogar schwer Erkrankte, die über mehrere Wochen beatmet werden mussten.“Es bestehe also berechtigt­er Grund zur Hoffnung.

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