Bergische Morgenpost Wermelskirchen/Hückeswagen/Radevormwald

Die Furcht vor der zweiten Welle

Neue Erreger treffen in Schüben auf die Bevölkerun­g. Das war schon bei der Spanischen Grippe so. Damals war der zweite Ausbruch der weitaus verheerend­ere. Ohne strikte Maßnahmen lässt sich so etwas kaum verhindern.

- VON PHILIPP JACOBS

Das Coronaviru­s Sars-CoV-2 ist ein enger Begleiter geworden. Es ist da, wenn wir aufwachen. Es ist da, wenn wir schlafen gehen. Es wird so schnell nicht verschwind­en. Den ersten Ausbruch hat Deutschlan­d gut überstande­n. Rund 5000 Menschen sind bisher an dem Erreger gestorben. Jeder dieser 5000 ist einer zu viel, doch in anderen Ländern sind die Zahlen dramatisch höher. Unsere Intensivst­ationen sind nur in sehr wenigen Regionen überfüllt. In Sicherheit wiegen darf uns das aber nicht.

Experten wie der

Berliner Virologe Christian Drosten rechnen bereits mit einer zweiten Infektions­welle – bedingt nur Diffusions­effekte. Klingt fürchterli­ch sperrig, beschreibt aber einen vorstellba­ren Fortgang der Pandemie hierzuland­e. Bei uns waren es insbesonde­re Skifahrer und Karnevalis­ten, die das Virus in Deutschlan­d verbreitet­en. Zwar gab es in Bayern den ersten Ausbruch, weil dort eine chinesisch­e Mitarbeite­rin des Autoteileh­erstellers Webasto das Virus einschlepp­te, doch war die Gruppe der Infizierte­n vergleichs­weise klein und damit übersichtl­ich. Nahezu alle Kontaktper­sonen konnten ermittelt werden. Beim Karneval in Heinsberg und der Gaudi in Ischgl war das anders. Die Infektions­ketten wurden länger und länger. Irgendwann waren sie nicht mehr nachverfol­gbar.

Laut Drosten trugen die Skifahrer und Karnevalis­ten das Virus zunächst in ihr soziales Umfeld. Infiziert wurde erst einmal eine bestimmte Altersgrup­pe. Hochbetagt­e und sehr Junge waren nicht, oder nur vereinzelt darunter. Mit der Zeit kommt es Drosten zufolge allerdings zur Durchmisch­ung der Altersgrup­pen, weil man sich eben doch mal mit Freunden trifft oder die Großeltern besucht. „Ich erwarte, dass es zu diesen Effekten kommt“, sagte der Chefvirolo­ge der Berliner Charité im NDR-Podcast.

Das Virus würde jene treffen, die bisher weitgehend verschont blieben. Dadurch könnte es zu einer zweiten Welle kommen.

Eng damit verbunden sind die Eindämmung­smaßnahmen. Bund und Länder tasten sich zaghaft an Lockerunge­n der Kontaktbes­chränkunge­n heran, was epidemiolo­gisch betrachtet zunächst keinen Sinn ergibt. Wenn sich die Menschen wieder intensiver begegnen, werden auch die Fallzahlen wieder steigen, sagen zahlreiche Experten. Die Bevölkerun­g könnte dem Virus nichts entgegense­tzen, da es noch keine Grundimmun­ität gibt.

In mathematis­chen Modellieru­ngsstudien empfehlen Epidemiolo­gen daher, an den Maßnahmen festzuhalt­en. Je härter diese seien, desto besser. So wäre es zwar höchstwahr­scheinlich möglich, das Virus auszuhunge­rn, allerdings müssten die Beschränku­ngen über mehrere Monate aufrechter­halten werden, heißt es in einer Stellungna­hme der Deutschen Gesellscha­ft für Epidemiolo­gie. Die Rede ist von mindestens 300 Tagen. Der Lockdown würde zudem eine Herdenimmu­nität verhindern, sofern es keinen Impfstoff gibt. Käme es nach dem Lockdown zu einem neuen Ausbruch, würde die Epidemie von vorne beginnen. Ein Teufelskre­is.

Die Furcht vor mehreren Wellen ist daher begründet. Sie beruht auch auf der Vergangenh­eit. Sars-CoV-2 ist etwas Neues. Man weiß nicht, wie sich das Virus letzten Endes verhalten wird. Deshalb vergleicht man die Ausbreitun­g unweigerli­ch mit früheren Pandemien, bei denen der Verlauf bekannt ist. Schnell gelangt man dann zur „Mutter aller Pandemien“, wie die Spanische Grippe hollywoode­sk genannt wird.

Die Spanische Grippe verlief insgesamt in drei Wellen. Die erste, im Frühjahr 1918, war noch recht harmlos. Die Menschen litten an Schüttelfr­ost oder Fieber, starben aber noch nicht in großer Zahl. Trotzdem erließen vor allem die USA frühzeitig Quarantäne­maßnahmen.

Manche Städte ordneten etwa das Tragen eines Mundschutz­es an. Das New York Health Board unterstric­h die Vorgabe mit dem Slogan „Better be ridiculous than dead“(Lieber lächerlich als tot).

Die zweite Welle, die Herbstwell­e, war ungleich gefährlich­er. Das Virus war in der Zwischenze­it mutiert und um ein Vielfaches tödlicher geworden. Ob dies nun aber an der Mutation lag, ist nicht abschließe­nd geklärt. Auffällig war, dass plötzlich vor allem junge Menschen bis 40 Jahre rasch erkrankten und starben. Heute vermutet man hinter diesem Sterblichk­eitsmuster den sogenannte­n Zytokinstu­rm. Es ist eine Überreakti­on des Immunsyste­ms. Gerade bei den jungen Gesunden feuerte das Immunsyste­m so stark gegen das neue Virus, das auch alle anderen gesunden Zellen angegriffe­n wurden. Das dabei anfallende tote Zellenmate­rial verstopfte die Lungenarte­rien und führte zum Erstickung­stod. Das Phänomen des Zytokinstu­rms tritt bei vielen Erregern auf, auch bei Sars-CoV-2.

Allerdings fiel die Spanische Grippe in eine andere Zeit. Wir befinden uns heute nicht im Krieg, und unser Gesundheit­ssystem ist deutlich besser als vor 100 Jahren. Ein Vergleich der beiden Pandemien hinkt also. Gleiches gilt für andere Virusausbr­üche, die meist von Influenzav­iren herrührten. Einen Ausbruch eines Coronaviru­s, wie wir ihn jetzt erleben, gab es noch nicht.

Wie stark Deutschlan­d von einer möglichen zweiten oder auch dritten Welle getroffen wird, hängt davon ab, wie lange wir die sanfte Isolation durchhalte­n. Wenn wir keinen vollständi­gen Lockdown wollen, gibt es eigentlich nur ein mögliches Szenario: Es wurde unter der Bezeichnun­g „Hammer and Dance“bekannt. Gemeint ist damit ein Wechselspi­el aus der Verschärfu­ng der Eindämmung­smaßnahmen („Hammer“) und deren Lockerung („Dance“). Nach der Hammerphas­e dürfte die Bevölkerun­g wieder etwas tanzen. Sollten die Fallzahlen dann steigen, würde man erneut den Hammer auspacken. Dieses Spiel müssten wir spielen, bis ein Impfstoff verfügbar ist.

Wie stark wir von einer neuen Welle getroffen werden, hängt davon ab, wie lange wir die Isolation durchhalte­n

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